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Wendechronik: Die Genossen opfern Honecker – zu spät

Sein Sturz sollte der SED im Oktober 1989 den Machterhalt sichern. Aber auch mit Nachfolger Krenz war kein Staat mehr zu machen

Von Matthias Schlegel

Erich Honecker kommt zu spät. Zehn Minuten nach zehn Uhr betritt der 77-Jährige den Sitzungssaal des Politbüros im ZK-Gebäude in Berlins Mitte. Das ist ungewöhnlich – er erscheint sonst stets pünktlich zu den Sitzungen des innersten Führungszirkels der Partei. Es ist Dienstag, der 17. Oktober 1989. Genau zehn Tage zuvor hat ihn „der große Bruder“, wie man in Parteikreisen gern die brüderlich verbundenen Genossen aus der Sowjetunion nannte, gemahnt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Damit hatte der zum 40. Jahrestag der DDR angereiste KPdSU-Parteichef freilich nicht die Pünktlichkeit in landläufiger Bedeutung gemeint. Vielmehr hatte er die Aufgeschlossenheit für dringend notwendige Reformen im Sinn. Bei Honecker war er damit auf taube Ohren gestoßen.

Die Tagesordnung, die Honecker am Anfang der Politbürositzung vorträgt, ist fern all der Themen, die draußen im Land den Leuten auf den Nägeln brennen. Nach der formalen Frage, ob jemand der anwesenden 25 Mitglieder und Kandidaten des Gremiums – nur Verteidigungsminister Heinz Keßler ist wegen einer Mittelamerikareise abwesend – Ergänzungen zur Tagesordnung habe, nimmt Ministerpräsident Willi Stoph das Wort: Er, einer der ältesten und langjährigsten Kampfgenossen des Parteichefs, stellt den Antrag, den „Genossen Honecker“ von seiner Funktion als Generalsekretär zu entbinden. Scheinbar unberührt von dem Putsch eröffnet Honecker die Diskussion zu diesem Antrag. Alle übrigen 24 SED-Spitzenfunktionäre nehmen nacheinander das Wort, alle unterstützen den Antrag – auch die Honecker am treuesten ergebenen Günter Mittag und Joachim Hermann, die kurz zuvor vom Berliner Bezirksparteichef Günter Schabowski selbst zum Rückzug aufgefordert worden waren.

Honecker wird für die verfahrene wirtschaftliche und politische Situation im Land und für die Ignoranz gegenüber Gorbatschows Reformkurs verantwortlich gemacht. Am Ende stimmen alle für die Absetzung von Honecker, Mittag und Hermann, auch die Betroffenen selbst – ein letztes Zeichen unbedingter Parteidisziplin. Ebenso einstimmig wird Egon Krenz zum Nachfolger Honeckers als Partei- und Staatschef benannt. Auf der ZK-Sitzung am nächsten Tag wird Honecker aus „gesundheitlichen Gründen“ um seine Abberufung bitten, diese und die anderen Personalien werden offiziell abgesegnet.

Unter dem Eindruck der immer machtvolleren Montagsdemonstrationen hatten einige Politbüromitglieder in den Wochen zuvor zaghaften Kontakt zueinander gesucht. Im Schutz der Dunkelheit der Waldsiedlung im Bernauer Forst, der hochgesicherten Wohnanlage der Politbüromitglieder, hatte am Samstag vor der entscheidenden Politbürositzung Egon Krenz sein Haus im Bussardweg 4 verlassen und war hinüber zu dem etwas abseits stehenden Haus von Gewerkschaftschef Harry Tisch geeilt. Auch Günter Schabowski ging vom Eichelhäherweg 6 wie auf einem unverfänglichen Spaziergang die rund zweihundert Meter zu Tischs Haus. Solche gegenseitigen Besuche waren im „Städtchen“ eher ungewöhnlich, weil sich alle gegenseitig misstrauten und nur wenige private Kontakte bestanden. Es wurde vereinbart, dass Stoph am Dienstag Honecker zum Rücktritt auffordern sollte. Und der Gewerkschaftschef, der am Montag zu einem Besuch nach Moskau reiste, sollte Gorbatschow über den geplanten Sturz Honeckers informieren und dessen Zustimmung einholen. Tisch gelang es tatsächlich, Gorbatschow zu treffen, und er teilte das am Montag Krenz telefonisch mit. Der sowjetische Staatschef war zwar ein wenig verwundert, hatte aber keine Einwände gehabt. Der große Bruder hatte also offenbar den Sturz Honeckers nicht aktiv betrieben, wie es gelegentlich kolportiert wurde, ihn aber auch nicht verhindert.

Es wird der letzte verzweifelte Versuch der SED-Führung, die Macht zu erhalten. Die führenden Genossen wollen eine „Wende“ einleiten, wie Egon Krenz tags darauf den Vorgang bezeichnen wird. Der Begriff wird bald in den allgemeinen Sprachgebrauch für das eingehen, was andere mit den Worten „friedliche Revolution“ viel treffender beschrieben sehen – weil es eben keine „von oben“ verordnete Umkehr, sondern eine vom Volk erzwungene Abdankung der Führungsriege und letztlich der DDR insgesamt war. Denn auch Krenz, der in seiner ersten Fernsehansprache nach seiner Wahl das DDR- Volk mit „liebe Genossinnen und Genossen“ anspricht, ist in den Augen der Bürger eben kein Garant für Veränderung. Viele Jahre als Kronprinz Honeckers gehandelt, gilt der 52-Jährige als unbrauchbar für das, was nottut: eine radikale Abrechnung mit dem System der Unfreiheit und Repression. Krenz wird seine Macht nur 47 Tage halten können. Am 3. Dezember 1989, drei Wochen nach dem Mauerfall, muss er mit der gesamten SED-Führungsriege zurücktreten.

Auch Krenz sei bereits „vergiftet“ gewesen, als er nach der Macht griff, sagt der Politikwissenschaftler Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin. „Die ganze Situation in der DDR war längst gegen die Wand gefahren angesichts der Entwicklungen, die sich in der Sowjetunion, in Polen oder Ungarn vollzogen hatten.“ Aber auch wenn der Rettungsversuch früher gekommen wäre, hätte er nach Ansicht Staadts nichts mehr bewirkt. Denn ein Impuls hätte nur aus der Perspektive einer Konföderation mit der Bundesrepublik, aus der Aussicht auf eine Marktwirtschaft kommen können. „Doch das wäre nicht mehr kontrollierbar gewesen“, ist Staadt überzeugt.

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