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Heiter bis wolkig. Auch der Himmel über dem Europaparlament in Straßburg konnte sich noch nicht entscheiden.

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Junckers Weißbuch zur EU: Wer das Europa der zwei Geschwindigkeiten als Gefahr sieht

Man hätte annehmen können, dass unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Einigung Europas als Chance gesehen werden. Doch es gibt Widerstände. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Die Geschichte der Einigung Europas ist auf den ersten Blick ziemlich langweilig. Es ging immer voran, bis vor einigen Jahren zumindest. Aber der Eindruck täuscht. Wie tief tatsächlich die Brüche sind, machte jetzt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit den fünf Szenarien für die künftige Entwicklung deutlich. Seine Optionen, die erst einmal nur Diskussionsanstöße sein sollen, reichen von „Wir schreiten voran“ bis „Rückwärts ist auch eine Bewegung“. Und damit spiegelt er eigentlich ganz gut die Geschichte der europäische Einigung wieder.

Jahrzehntelang gab es in der Europa-Politik nur ein Prinzip: das des Immer-mehr-gemeinsam-machens. Der Gedanke, Schritt für Schritt nationale Souveränität zu übertragen auf eine Art pan-europäischer Regierung, überwölbte den Zeitraum vom Inkrafttreten der Römischen Verträge vor 60 Jahren bis zum Zusammenbruch des Ostblocks. Es war die Phase, oder besser: Ära, in der die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und der gemeinsame Wille, in Europa nie wieder eine militärische Auseinandersetzung zuzulassen, das politische Handeln bestimmte.

Neue Mitgliedsländer, neue Funktionen für die EU

Mit der Befreiung der Staaten Ost- und Mittelosteuropas änderten sich die Prioritäten. Nun hatte die Europäische Union plötzlich die Funktion übernommen, diese Länder von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer durch den Rückhalt Westeuropas politisch zu stabilisieren, vor Machtansprüchen Russlands zu schützen, und für die Europäische Union reif zu machen. Dazu sollte das ökonomische Niveau der Gesellschaften dort durch Übertragung von Wohlstand und Wachstum aus der EU angehoben werden.

Während der Plan, den Staaten des Baltikums, Polen, Ungarn, Rumänien, Tschechien, Bulgarien, Kroatien, Slowenien und der Slowakei so etwas wie wirtschaftliche Entwicklungshilfe durch einen horizontalen Finanzausgleich zu leisten (die Reichen zahlen, die Armen empfangen) ganz gut aufging, vermochte der andere, der politische Teil nur im Baltikum zu überzeugen. Von der Übertragung nationaler Kompetenzen nach Brüssel wollten vor allem Staaten nichts wissen, die die größten Profiteure der Vermögensumverteilung sind: Polen und Ungarn, Tschechien und die Slowakei. Während das populistische Regime in Ungarn wohl auch ein Reflex des nationalen Traumas durch den Machtverlust nach dem Ersten Weltkrieg ist, liegen die Ursachen in Polen anders: Dort übersah der pro-europäische Ministerpräsident Donald Tusk, dass für große Teile der Landbevölkerung nicht genug abfiel vom wachsenden Wohlstandskuchen.

Die Angst, abgehängt zu werden

Was bedeutet das für Junckers Ideen? Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, wie er und auch Angela Merkel es wohl gerne hätten, würde zum allgemeinen Erstaunen an der östlichen Peripherie nicht etwa dankbar als Chance empfunden, langsamer Voranschreiten zu dürfen, sondern als Gefahr, abgehängt zu werden. Wer aber vor nicht einmal 25 Jahren seine nationale Unabhängigkeit zurückgewonnen hat, gibt sie nicht gerne preis. Wie es weitergeht, ist also eine Frage kluger Diplomatie: Ein Zug, auch der europäische, braucht nun einmal die Lokomotive so nötig wie die Bremsen.

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