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Politik: „Wer hat die größte Abrissbirne?“ Ex-Minister Norbert Blüm ist der Vater der Pflegeversicherung – und wehrt sich vehement gegen ihre Abschaffung

Es entwickelt sich fast versteckt ein neues Gesellschaftsspiel: Wer hat die größte Abrissbirne? Jetzt ist die Pflegeversicherung an der Reihe.

Es entwickelt sich fast versteckt ein neues Gesellschaftsspiel: Wer hat die größte Abrissbirne? Jetzt ist die Pflegeversicherung an der Reihe. Erst acht Jahre in Betrieb und die einzige Sozialversicherung, die in dieser Zeit mit dem Geld, das sie eingenommen hat, zurechtkam. Ihre Beiträge erhöhten sich nicht, und Bundeszuschüsse erhält sie auch nicht.

Macht nichts: Wir reißen ab.

Die Pflegeversicherung hat manche Unvollkommenheiten, aber sie hat viel Gutes bewirkt.

1. Endlich werden die Familien, die zu Hause ihre pflegebedürftigen Angehörigen betreuen, nicht mehr im Stich gelassen. Eine neue Infrastruktur ambulanter Pflegedienste und -stationen entstand. Sie boten in der Kurzzeitpflege und Tagespflege endlich Hilfe, welche die Heimpflege entlastete. Weniger und später landen die Pflegebedürftigen im Heim. Das ist nicht nur ein sozialer Fortschritt, sondern auch eine handfeste finanzielle Entlastung der öffentlichen Kassen. Pflegebedürftigkeit musste auch vorher bezahlt werden. 14 Milliarden Mark allein von der Sozialhilfe.

Macht nichts, wir reißen ab.

2. Endlich erhalten die häuslichen „Samariter“, die oft jahrelang an ihren aufopferungsvollen Dienst gefesselt waren (meist sind es Frauen), Entlastung durch eine Ersatzperson, die einspringt, wenn sie selbst einmal Luft holen und Urlaub machen wollen. Die Zeit, in der die Helfer Pflegedienste leisten, ist für die Rentenversicherung nicht mehr verloren, denn die Pflegeversicherung zahlt Beiträge für sie in die Rentenkasse.

Macht nichts, wir reißen ab.

Allerorts ertönt der Ruf: „Weniger Staat“. Der Abriss der Pflegeversicherung jedoch schafft mehr Staat. Denn die Sozialhilfe ist „mehr Staat“ als eine selbst verwaltete, beitragsfinanzierte Pflegeversicherung.

Allerorts ertönt der Ruf: „Weniger Umverteilung“. Die Umverteilung ist jedoch im steuerfinanzierten System proportional größer als in einem beitragsfinanzierten.

Allerorts ertönt der Ruf: „Mehr Transparenz“. In der Sozialhilfe ist das Verhältnis, wer zahlt und wer bekommt, undurchsichtiger als in der Pflegeversicherung. Eine Versicherung haushaltet mit den Einnahmen, die sie für bestimmte Zwecke erhält. Bei Beitragserhöhung steht sie unter Rechtfertigungszwang. Im Staatshaushalt dagegen findet ein interner Verteilungskampf statt, bei dem in vielen Fällen niemand mehr weiß, wer wessen Hand in welcher Tasche hat. Es verwundert nicht, dass die Einteilung der Pflegeklassen in der Sozialhilfe weniger präzise und oft willkürlich war (je nach dem Verhältnis zwischen Stadtkämmerer und Sozialdezernent).

Neben den sozialpolitischen Gründen, die der Pflegeversicherung den Vortritt vor der Sozialhilfe lassen, gibt es eine Reihe rechtlicher und sozialpolitischer Gründe, die gegen den Abriss der Pflegeversicherung sprechen. Beiträge lösen eigentumsähnliche Rechtsansprüche aus. Seit acht Jahren zahlen Millionen von Versicherten Beiträge in die Pflegekasse ein. War das „für die Katz“? Sollen diese Leistungsansprüche annulliert werden?

Was machen wir nach dem Abriss der Pflegeversicherung mit den Kompensationen, die für die Arbeitgeberbeiträge eingeführt wurden? Soll der Buß- und Bettag wieder bezahlter Feiertag werden?

Makaber wird es, wenn ausgerechnet diejenigen, die schon damals gegen die Pflegeversicherung waren und ihre Zahlungsunfähigkeit nach Jahresfrist voraussagten, jetzt sich Gedanken machen, wie sie die Pflegeversicherung ausschlachten und ihre Rücklage zweckentfremden können. So etwas nenne ich „Sozialklau“.

Hinter dem Vorschlag nach Rückbau der Pflegeversicherung in ein staatlich organisiertes und finanziertes Bedarfssystem steckt mehr als eine sozialpolitische Detailfrage. Es geht um die Gestalt unseres Sozialstaates. Soll der Sozialstaat nur die Anstalt für die Bedürftigkeit sein? Spielen Leistungspflichten keine Rolle mehr für Leistungsrechte?

Der Sozialstaat als Fürsorgeanstalt führt in die Zeit vor Bismarck zurück. Er verzichtet auf jedwede Berücksichtigung des Leistungsprinzips, das schließlich auch die Emanzipation der Arbeitnehmerschaft aus dem patriarchalischen Fürsorgestaat bewirkte. Es macht einen prinzipiellen Unterschied, ob ein Anspruch erworben wird aufgrund eigener Beitragsleistungen oder ob er von einem fürsorglichen Versorgungsstaat zugewiesen wird. Ein Sozialstaat, der ständig die Frage stellt, bist du reich oder arm, ist ein Nachfahre des alten Obrigkeitsstaates in wohlfahrtsbesorgter Gestalt. „Mein“ Sozialstaat ist das nicht.

„Mein Sozialstaat“, für den ich eintrete, hat nicht nur mit Barmherzigkeit zu tun, sondern auch mit Leistungsgerechtigkeit. Deshalb steige ich notgedrungen noch einmal in den Ring, wenn der Gong zum Kampf um die Pflegeversicherung ertönt.

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