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Politik: Widersprüche im Betriebshandbuch

Risikobewusstsein gehört nicht zu den wichtigsten Eigenschaften für Mitarbeiter in Atomkraftwerken. Zumindest scheint das für die Belegschaften der fünf baden-württembergischen Atomkraftwerke zu gelten.

Risikobewusstsein gehört nicht zu den wichtigsten Eigenschaften für Mitarbeiter in Atomkraftwerken. Zumindest scheint das für die Belegschaften der fünf baden-württembergischen Atomkraftwerke zu gelten. Wie sonst ließe sich erklären, dass in den drei Kernkraftwerken Philippsburg 2, Obrigheim und Neckarwestheim 1 jahrelang Regeln der Betriebshandbücher schlichtweg ignoriert wurden. Gerhard Goll, Vorstandsvorsitzender der Energie-Baden Württemberg (EnBW), der Betreiberin der Kraftwerke, spricht im Fall Philippsburg 2 von "menschlichen Fehlern und Unterlassungen". Allerdings versichert er, dass es in keinem Fall zu einer "objektiven Gefährdung" hätte kommen können.

Goll tut die Sicherheitsmängel, die beim Anfahren der Atomkraftwerke nach der Revision, also dem Austausch der Brennelemente, aufgetreten sind, als "Formalverstöße" ab. Er spricht wolkig von "Vorkommnissen", ein Sprachgebrauch, den das Stuttgarter Umweltministerium als Aufsichtsbehörde sofort übernommen hat. Kein Wunder, dass auch die Belegschaften sich in Sicherheit wiegen. Zumal laut Gerhard Goll ein Ergebnis der Überprüfung der Notkühlsysteme ist, dass die Sicherheitsvorgaben zum Teil widersprüchlich seien. Die "Spezialregelungen", die für den sicheren Betrieb der Anlagen laut Goll besonders relevant sind, schrieben niedrigere Borkonzentrationen und Flüssigkeitsfüllstände in den Notkühlsystemen vor als das Betriebshandbuch. Diese Spezialregelungen seien in jedem Fall "mit weitem Sicherheitsabstand" eingehalten worden. In den Sicherheitssystemen bei Druckwasserreaktoren wie Philippsburg 2, Obrigheim und Neckarwestheim wirkt Bor quasi als Feuerlöscher. Es bremst die radioaktive Kettenreaktion ab, wenn ein Reaktor notabgeschaltet werden muss.

Die EnBW will sich nun um mehr Klarheit in den Sicherheitsvorgaben für die Kraftwerke bemühen. Zudem will Gerhard Goll einen unabhängigen "nuklearen Sicherheitsbeauftragten" einstellen, der ihm selbst direkt berichten darf, wenn er es für nötig hält. Ob das Umweltminister Jürgen Trittin reicht, um seine Bedenken in die Zuverlässigkeit des Betreibers zu zerstreuen, ist noch nicht ausgemacht.

Hinter den jahrelangen Verstößen gegen Sicherheitsbestimmungen in Baden-Württemberg verschwinden andere Pannen regelrecht. Im Kühlsystem des Atomkraftwerks Biblis sind Rostspuren entdeckt worden. In Stade hat es Probleme mit einem Kondensator gegeben, und in Ohu im AKW Isar 1 soll ein Mitarbeiter versucht haben, dem Gutachter, dem Tüv Süddeutschland, sicherheitsrelevante Informationen vorzuenthalten. Eines verbindet die meisten dieser Pannen: Die Belegschaften scheinen nach Jahren eines mehr oder minder störungslosen Betriebs zunehmend sorglos geworden zu sein. Eine Sprecherin der EnBW drückt das so aus: "Techniker haben die Vorschriften zu technisch ausgelegt." Das Bewusstsein der Beschäftigten müsse geschärft werden.

Sorglosigkeit in Atomanlagen hat Tradition. Schon bei den ersten Experimenten mit Radioaktivität haben sich die Physiker wenig Sorgen über deren Beherrschbarkeit gemacht. Auch alle schweren Atomunfälle waren eine Folge dieser Unbekümmertheit. Trotzdem haben die Beschäftigten den Leichtsinn, der letztlich zum Super-Gau in Tschernobyl oder zu dem unkontrollierbaren Brand im Reaktor in Windscale - heute Sellafield - geführt hat, nie als Warnung verstanden. Die Betreiber beteuerten immer wieder, dass ein solcher Unfall in einem deutschen Atomkraftwerk undenkbar sei. Die Belegschaften haben es geglaubt. Und seitdem klar ist, dass sie keine Zukunft mehr haben werden, schließlich ist der Ausstieg aus der Technologie absehbar, haben sie sich erst recht eingeigelt. Alles unter Kontrolle, ob die Sicherheitsbestimmungen nun eingehalten werden, oder nicht.

Jetzt müssen die Betreiber beweisen, dass sie in der Lage sind, ihren Belegschaften, den Sinn des Sicherheitsmanagements plausibel zu machen. Sonst könnte Umweltminister Jürgen Trittin womöglich doch noch einmal darüber nachdenken, was ein "sicherheitsorientierter Betrieb" der Anlagen eigentlich bedeuten soll. Im für die Betreiber schlimmsten Fall könnten die Atomkraftwerke ziemlich lange still stehen.

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