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Euros fliegen lassen? Ein tiefer liquider Euro-Finanzmarkt kann helfen, Europa zu stärken. Aber das ist für Nils Schmid nur ein Teil der Antwort.

© picture alliance / Uli Deck/dpa

Wie weiter mit Europa?: Zukunft gibt’s nur ohne olle Kamelle

Warum Europas „strategische Autonomie“ in die Irre führt - und die EU mehr Souveränität braucht, auch wenn das die deutsche Politik stresst. Ein Gastbeitrag.

- Nils Schmid, MdB, ist außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.

Vor knapp drei Jahren hat der französische Präsident Emmanuel Macron in einer vielbeachteten Rede an der Sorbonne-Universität für ein geeintes Europa geworben. Schlüsselbegriff seiner Ausführungen war die Stärkung der Europäischen Souveränität. Lange Zeit schien der Effekt dieser Rede zu verpuffen, gerade auch in Deutschland.

Mit der Corona-Pandemie ist die Notwendigkeit entschlossenen gemeinsamen europäischen Handelns allen offenbar geworden: auf deutsch-französische Initiative hin wurde ein historisches Wiederaufbaupaket geschnürt. Jetzt ergibt sich die einmalige Gelegenheit, das Programm zur Stärkung der Europäischen Souveränität voll zu entfalten.

Europäische Souveränität ist die Fähigkeit der EU, im Binnenverhältnis der Mitgliedsstaaten und ihrer Bürger und im Außenverhältnis zu Dritten nach selbst gesetzten Regeln zu handeln. Kurzum: es geht um die politische Handlungsfähigkeit Europas nach innen wie nach außen. Der Begriff der Souveränität hat deshalb Charme, weil er auf eine lange geistesgeschichtliche Tradition in Europa zurückgeht.

Seit den Schriften Jean Boudins im 16. Jahrhundert dient er dazu, staatliche Handlungsfähigkeit auszubuchstabieren und rechtlich zu fassen. Damit hat er einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung moderner Staatlichkeit geleistet. Heutzutage ist Souveränität vor allem im Völkerrecht von praktischer Bedeutung; staatsrechtlich hat er in fest etablierten Nationalstaaten mit gewachsenen Institutionen und bewährten Verfassungen praktisch keine Relevanz.

Immer dann, wenn staatliches Handeln eine neue Gestalt annimmt, gewinnt der Souveränitätsbegriff aber an Bedeutung. Für die EU, die sich auf den Weg zu einer ganz eigenen Form von einer die Mitgliedsstaaten ergänzenden und sie untereinander verbindenden Staatlichkeit aufgemacht hat, ist daher Souveränität in erster Linie politisch zu definieren und dann gegebenenfalls in neue Rechtsformen zu gießen.

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Dieses supranationale Gefüge, dem Bundesverfassungsgericht zufolge ein „Staatenverbund“, ersetzt nicht die nationale Souveränität der Mitgliedsländer, sondern ergänzt und verstärkt sie. Die Einsicht, dass ein europäisches Land in Zeiten von Globalisierung nicht allein bestehen kann, ermöglicht es, Hoheitsrechte auf die EU zu übertragen und dort zu bündeln, ohne die nationale Souveränität aufgeben zu müssen.

Für viele unserer europäischen Partner – nicht nur im ehemaligen Ostblock – ist dieses Verständnis eminent wichtig. Wir dürfen die Debatte über die Europäische Souveränität nicht mit der Schablone des Grundgesetzes und des deutschen Bundesstaates führen.

Die Nato bleibt Grundpfeiler der EU-Verteidigungspolitik

Gleichzeitig sollten wir diese Zukunftsdebatte nicht mit der ollen Kamelle von der „strategischen Autonomie“ Europas belasten. Dieses Leitbild führt in die Irre. Strategische Autonomie Europas im strengen Sinne würde die Verfügbarkeit strategischer Atomwaffen für Europa voraussetzen – ein Ziel, das wenig realistisch erscheint. Auch schwingt bei "strategischer Autonomie" der Gedanke von sicherheitspolitischer Abkopplung von den USA mit.

Die Nato bleibt jedoch Grundpfeiler der Verteidigungspolitik eines souveränen Europas, das eigenständige Instrumente ziviler und militärischer Konfliktbewältigung aufbaut. Außerdem verengt der Gedanke der „strategischen Autonomie“ die Suche nach Europäischer Souveränität zu sehr auf die Sicherheitspolitik und auf das transatlantische Verhältnis. Europa sieht sich aber vor ein viel breiteres Bündel von Herausforderungen gestellt – im Verhältnis zu den USA geht es um weit mehr als Verteidigungsfragen, und dies gilt erst recht in den Beziehungen der EU zu China, Afrika und der internationalen Gemeinschaft allgemein.

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Ein souveränes Europa verfügt über alle Instrumente, um seine Werte und Interessen vorzugsweise mit Verbündeten und Partnern, notfalls auch allein durchzusetzen. Als erfolgreichstes multilaterales Projekt der Moderne engagiert sich die EU für die multilaterale, regelgebundene internationale Ordnung. Sicherheitspolitisch übernimmt die EU mehr Verantwortung – insbesondere in den Nachbarregionen postsowjetischer Raum, Naher Osten, Afrika.

Gute Beispiele hierfür gibt es schon: Minsk-Abkommen für die Ost-Ukraine, Atomabkommen mit dem Iran, Libyenkonferenz und Mission „Irini“, Sahel-Engagement. Diplomatie hat stets Vorrang, doch auch eigene militärische Fähigkeiten der EU gehören dazu, einschließlich der Kernkompetenzen in der Rüstungsindustrie. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat recht: Wir müssen ein Stück weit unabhängig von der Rüstungskooperation mit den USA werden.

Entscheidend für die Schlagkraft von EU-Diplomatie ist es, die internationale Rolle des Euro zu stärken. Um einseitiger, gegen europäische Interessen gerichteter Politik der USA und in Zukunft Chinas wirksam entgegenzutreten, brauchen wir einen tiefen, liquiden Euro-Finanzmarkt.

Wir brauchen Eurobonds

Diesen zu entwickeln benötigt Zeit – und Eurobonds. Nur wenn Unternehmen und Banken eine Alternative zur Finanzierung in Dollar haben, kann die außenpolitische Hebelwirkung dieses „exorbitanten Privilegs“ der USA gemildert werden und Europa seine Wirtschaftsbeziehungen zu Ländern wie Iran und Russland selbst gestalten.

Zudem sollte der Öl- und Gashandel der EU mehr und mehr in Euro abgewickelt werden. Schließlich könnten die EU-Staaten ihre Hilfen für wirtschaftliche Zusammenarbeit in einer neuen Europäischen Entwicklungsbank oder bei einer der bestehenden Institutionen (EIB oder EBRD) bündeln.

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Eng verknüpft damit ist die Ausweitung handelspolitischer Instrumente der EU. Bei Zöllen ist sie jetzt schon schlagkräftig; bei der Abwehr exterritorialer Sanktionen muss sie eigene Werkzeuge entwickeln; beim Investmentscreening aus Drittstaaten sind erste Schritte gemacht, hier sollte die sehr wirksame Fusionskontrolle durch die Kommission das Vorbild sein.

All das belegt, dass die EU dort besonders schlagkräftig ist, wo sie gemeinsame Regeln aufstellt (Zölle, Fusionen, Binnenmarktnormen wie jene zu Datenschutz). Diese regulatorische Macht einzusetzen ist ein wesentliches Element Europäischer Souveränität.

CDU und FDP wittern schnell Verrat am Steuerzahler

Technologieführerschaft ermöglicht wirtschaftliche und soziale Gestaltung nach eigenen Regeln und das Aushandeln von globalen Regeln auf Augenhöhe. Europäische Souveränität knüpft daher an das Lissabon-Ziel an, die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln. Bestes Beispiel hierfür ist die neueste 5 G-Mobilfunktechnik.

Ein solches Programm für Europäische Souveränität verlangt der deutschen Politik einiges ab. SPD und Grüne mögen sich mit den sicherheitspolitischen Folgerungen schwertun, CDU und FDP wittern schnell Verrat am Steuerzahler. Nach anfänglichem Zögern hat die Große Koalition europapolitisch an Statur gewonnen, jetzt gilt es den Impuls weiterzutragen. Denn in Zeiten raschen Wandels brauchen wir, mit Macron gesprochen, ein Europa, das schützt – sich selbst mit seinen Interessen und Werten und seine Bürgerinnen und Bürger.

Nils Schmid

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