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Was ist vertraulich - und vor allem: Was muss vertraulich bleiben? In Deutschland und anderswo hat sich nach den Wikileaks-Veröffentlichungen eine Debatte um den Sinn und Unsinn von Enthüllungen entsponnen.

© dapd

Wikileaks-Debatte: Bescheidwissen ist Macht

Wikileaks verwirrt. Auch Journalisten. Manche gerieren sich als Mitspieler der Mächtigen statt als deren natürliche Feinde. Die Idee Wikileaks aber gibt einer Krisenbranche neue Chancen.

Von Markus Hesselmann

Die geistreichsten Sätze der ganzen Debatte kommen bislang aus Großbritannien: "Es ist nicht der Job der Medien, die Mächtigen vor Peinlichkeit zu schützen", schreibt Simon Jenkins, Kommentator des "Guardian". Der renommierte Journalist Jenkins - einst Chefredakteur der "Times" und vor Jahren schon zum "Sir" geadelt, also allemal kein digital-nativer Internetgroupie - verteidigt damit die Entscheidung des "Guardian", der Enthüllungsplattform Wikileaks bei der Veröffentlichung geheimer diplomatischer Depeschen zu helfen. Alles was im Namen der Demokratie gesagt oder getan werde, sei zunächst einmal von Interesse, schreibt Jenkins weiter.

Die Kritik, auf die Jenkins hier reagiert, kommt naturgemäß von Politikern, aber erstaunlicherweise und verstärkt auch aus den eigenen Reihen, von Journalisten. Als ob es nicht mehr deren ureigene Aufgabe sei, zu enthüllen, zu veröffentlichen, Transparenz zu schaffen, gerieren sich viele von ihnen als Politiker- und Diplomatenversteher, als Hüter des Geheimnisvollen, als Mitspieler der Mächtigen statt als deren natürliche Feinde.

Diese Debatte hat jetzt noch einmal Hans Leyendecker auf den Plan gerufen. Der Starreporter der "Süddeutschen Zeitung" reihte sich zunächst unter die in Deutschland zahlreichen Wikileaks-Gegner ein. Nun beschleicht ihn offenbar ein ungutes Gefühl. Erschrocken stellt Leyendecker fest, "wie einhellig die Netzgemeinde bei Facebook oder in den Kommentaren der Zeitungsportale auf Seiten von Assange steht".

Leyendecker wird nun nicht zum Fan von Julian Assange, dem derzeit inhaftierten Wikileaks-Gründer, dem er mit seiner Truppe eine "Mission" unterstellt und dies nicht positiv meint. Doch der große Rechercheur gibt zu Bedenken: "Ob eine Quelle uneigennützig dem Guten zum Durchbruch verhelfen möchte oder aus niederen Motiven sprudelt, ist für den Enthüllungsjournalismus meist unerheblich", schreibt Leyendecker. Auch Handlungen aus verwerflichen Motiven könnten für das Gemeinwohl förderlich sein.

Das Internet nimmt und gibt

Und umkehrbar ist die Entwicklung für Leyendecker ohnehin nicht mehr. Es sei eher zweifelhaft, "dass sich die Alten, die Journalisten, die das Portal wegen seiner Radikalität kritisieren, mit ihrer Definition von Vertraulichkeit am Ende durchsetzen werden", schreibt Leyendecker halb resigniert halb erwartungsfroh. Wikileaks und die aktuelle Debatte würden in jedem Fall den Journalismus verändern, "ob er will oder nicht".

Er sollte es wollen, der Journalismus. Denn er ist in keinem guten Zustand. Seine Ressourcen schwinden. Das hat auch mit dem Internet zu tun. Die Verlage müssen - noch dazu in Zeiten der Finanzkrise - ins Netz investieren, ohne dort schon hinreichende Umsätze erzielen zu können. Gleichzeitig gehen bei den gedruckten Ausgaben die Anzeigen- und Auflagenerlöse zurück. Doch die Umwälzungen sind nicht nur wirtschaftlich. Hinzu kommt der - teils gefühlte, teils behauptete, teils tatsächliche - Bedeutungsverlust. Die Informations- und Deutungshoheit teilen sich die "klassischen" Journalisten längst mit Bloggern, Twitterern, Facebook-Freunden und Leserkommentatoren in ihren eigenen Foren.

Doch dann gibt jenes verzwickte Internet mit Wikileaks und der Idee der digitalen Enthüllungsplattform dem Journalismus eine neue Chance: ein Instrument, das er nutzen sollte statt es zu verteufeln. Die schiere Menge der Daten - allein das von Wikileaks schwungvoll "Cablegate" getaufte diplomatische Riesendossier umfasst 251.287 Depeschen, von denen überhaupt erst 1344 auf der Wikileaks-Seite veröffentlicht sind - verlangt ja nach einer ordnenden und vor allem einordnenden Hand.

Alle Macht dem Whistleblower

Und Wikileaks ist erst der Anfang. Schon formiert sich in Deutschland ein Projekt namens Openleaks, mit dem Wikileaks-Abtrünnige Medien und Nicht-Regierungsorganisationen eine Art digitalen Enthüllungsmechanismus an die Hand geben wollen. Das würde den Akt der Veröffentlichung demokratisieren und die veröffentlichten Daten vom Ruch der Geschäftemacherei befreien. Denn künftig würden nicht nur einige wenige große Medien exklusiv bedacht. Der "Whistleblower" kann sich bei Openleaks selbst aussuchen, welchem Medium oder welcher Organisation er sein brisantes Wissen übermitteln will. Schon dass es im Deutschen gar keine adäquate Übersetzung für den "Whistleblower" gibt, zeigt übrigens, dass wir da noch einiges aufzuholen haben.

Das Internet hat für den Journalismus also nicht nur Zumutungen parat. Das prompte Feedback, die Anregungen und die Kritik in den sozialen Netzwerken, Foren und Blogs sind ja überhaupt kein Nachteil, sondern sollten noch viel stärker genutzt werden, um Recherchethemen zu finden oder um die eigene Recherche zu optimieren und immer wieder nachzuarbeiten. Nachdem es den Journalismus bereits mit Ideen und Feedback versorgt, liefert das Internet jetzt auch noch verstärkt investigatives Material. Einmal mehr macht die digitale Technik vieles leichter - und billiger. Gerade investigativer Journalismus ist nämlich aufwendig und teuer.

Der "Internet-Verräter" und die "totalitäre Transparenz"

Der Tonfall der Wikileaks-Debatte in Deutschland macht derzeit allerdings wenig Hoffnung, dass diese Chance gesehen und genutzt wird. Dass die "Bild"-Zeitung Assange den "Internet-Verräter" nennt - geschenkt. Irritierender ist, dass sich ausgerechnet im linksliberalen Flaggschiff der deutschen Presse, der "Süddeutschen Zeitung", renommierte Kommentatoren im Zusammenhang mit Wikileaks zu Begrifflichkeiten wie "totalitäre Transparenz" (Stefan Kornelius auf der Meinungsseite) oder "totale Offenbarung" (Thomas Steinfeld im Feuilleton) versteigen.

Offenbart wird damit höchstens ein elitär-entrücktes Politikverständnis. Ein Gemeinmachen mit den Mächtigen. Daraus spricht eine in Deutschland verbreitete, Linke wie Rechte einende Angst vor dem Volk, dem Pöbel, der weder satisfaktions- noch diskursfähig ist und eigentlich immer gefährlich.

Wenig überraschend, dass Steinfeld in dem Zusammenhang Adorno bemüht. Den aufgeklärten Bürger setzt der Feuilleton-Chef der "Süddeutschen" mit dem "ewig nörgelnden Moralisten" gleich, dem nunmehr "das zweifelhafte Vergnügen geboten" werde, dank Wikileaks "zumindest imaginär dabei zu sein, wenn die Diplomaten dieselben abfälligen Urteile über das politische Personal niederschreiben, die er sich selbst in seiner vermeintlichen Überlegenheit über das Geschäft der Regierenden zu eigen gemacht hat." Alles Wissen verwandele sich - Adorno wusste es schon zu strikt analogen Zeiten - in bloßes "Bescheidwissen".

Frontale Widersprüche

Die Verwirrung ist offenbar groß. Die Hauptargumentationslinien der Wikileaks-Gegner widersprechen sich frontal. Wie kann etwas, das den Tod der Diplomatie aus dem Geiste des Geheimnisverrats heraufbeschwört, gleichzeitig nur Belangloses hervorbringen? Mit großer Geste wird Wikileaks als Tratsch- und Klatschmaschine abgetan. Die Antwort auf diesen nicht nur von Steinfeld verwendeten Kunstgriff gibt der aufgeklärte Bürger zum Beispiel im Leserforum bei Tagesspiegel.de. In dem Fall nennt er sich - offenbar durchaus Adorno-geschult - auch noch selbstironisch "bescheidwisser".

"Tratsch?!?: allein der El-Masri-Fall, bei dem sich die deutsche Politik und Justiz dem US-Druck gebeugt hat, belegt die undemokratischen, unrechtsstaatlichen Verhältnisse, mit denen wir es heute zu tun haben", schreibt der Leserkommentator. Nun muss man nicht gleich den Unrechtsstaat BRD ausrufen. Aber dass nun belegt werden kann, dass die USA im Fall des vom US-Geheimdienst nach Afghanistan verschleppten Deutschen Khaled al Masri unter Druck gesetzt haben, um eine Festnahme von CIA-Agenten zu verhindern, ist weder Klatsch noch Tratsch, sondern ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung des Falls.

Und hier geht es dann auch nicht um arabische Potentaten, deren Bloßstellung manchen westlichen Kommentator zur Selbstgefälligkeit verleitet hat, sondern um Fehlentwicklungen in zwei demokratisch verfassten Staaten. Wenn das öffentlich wird, sollte das jeden Journalisten erfreuen.

Ein anderer Leserkommentator, "klaus_weiss", widerspricht der Tratsch-These, indem er auf die Enthüllung verweist, dass die USA Kabul dazu drängten, die Lagerung und den Gebrauch von Streubomben in Afghanistan weiterhin zu ermöglichen. Dabei beruft er sich auf das ARD-Magazin "Monitor", das dieses Thema aufgriff. Spätestens hier wird klar: Kaum ein Bürger hat die Muße, sich selbst in das Depeschenkonvolut zu vertiefen. Das ist unser Job - ein wichtiger Job für den klassischen Journalismus.

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