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Politik: Wir werden es erfahren

Von Tissy Bruns

Wird 2005 ein Reformjahr? Allerdings, denn Deutschland reformiert sich von A bis Z, von Agrarreform und Alterseinkünften bis Zahnersatz und Zuverdienst. In diesem Jahr wird sich für viele Bürger viel mehr verändern als 2004. Hartz IV, der Einstieg in die Rentenbesteuerung, die neue Formel für die Pflegeversicherung, die dritte Stufe der Steuerreform, mehr Ganztagsschulen – niemand wird davon unberührt bleiben.

Ob das Jahr 2005 wieder ein Reformjahr wird, gilt trotzdem nicht als banale Frage. Sie wird ernsthaft zwischen den rotgrünen Koalitions- und den schwarz- gelben Oppositionspartnern gestellt. Mit großer Heftigkeit beklagen die Unternehmerverbände, dass die Politik eine Reformpause einlegen werde. Leitartikel widmen sich dieser Befürchtung. Der Kanzler verspricht das Gegenteil, denn der übermächtige Konsens lautet: Der Reformprozess muss weitergehen!

Das ist wahr – und noch banaler als die Frage nach dem Reformjahr 2005; verlogen ist es außerdem. Wahr und banal, weil jeder aufgeklärte Bürger weiß, dass Praxisgebühr, Arbeitslosengeld 2 und Nachhaltigkeitsfaktor bei der Rente für die Zukunft unserer Kinder zu wenig sind. Verlogen, weil die professionelle Öffentlichkeit sehr gut weiß, dass wegen des politischen Patts zwischen Regierung und Opposition vor der nächsten Bundestagswahl kein großer neuer Reformschritt möglich ist. Es ist nur scheinradikal, in dieser Lage nach mehr und nach schärferen Reformen zu rufen.

Der öffentliche Reformeifer rührt, im Gegenteil, bei den Bürgern an einen empfindlichen Nerv. Anfang dieses Jahres wird der laute Aufschrei vermutlich ausbleiben, der vor zwölf Monaten als Reaktion auf den Zehn-Euro-Schein in der Arztpraxis durchs Land ging. Das Land hat gelernt, wie sehr es sich verändern muss. Aber deshalb darf der Reformprozess auch nicht als permanente Volksbeschimpfung weitergehen. Wenn, wie jüngste Untersuchungen zeigen, die meisten Deutschen heute länger arbeiten als vor fünf Jahren, dann klingt die Forderung nach mehr Arbeit für weniger Geld hohl. In diesen Tagen wird der niedrigste Krankenstand seit 1970 gemeldet. Aber nicht berichtet werden konnte, was für die Arbeitgeberverbände daraus folgt.

Es ist gefährlich, wenn sich im Lebensalltag der Menschen, bei Arbeitszeiten, Einkommen, Besitzständen mehr verändert, als die öffentliche Kaste zur Kenntnis nimmt. Trotz gestiegener Akzeptanz für den Reformprozess ist der Grundverdacht nicht aus der Welt, dass sich dabei wenige große über Gebühr an vielen kleinen Leuten schadlos halten. Und das generelle Legitimationsdefizit für die Agenda 2010 ist ja nicht beseitigt. Der Beweis steht noch aus, dass die Sozialsysteme saniert, die Arbeitslosigkeit gesenkt, die Wirtschaft innovativer, Bildung und Ausbildung konkurrenzfähig werden können. Die Reform des Modells Deutschland ist nichts anderes als ein großes Experiment, das neben den erhofften Wirkungen mit einiger Sicherheit auch unerwünschte Nebenwirkungen bringen wird. Dieses Experiment ist dringend darauf angewiesen, dass die Bürger auf das Augenmaß der Politiker und Parteien vertrauen können.

Deshalb müssen die nächsten 18 Monate keine verlorene Zeit sein. Nicht nur wegen der praktischen Erfahrungen, die 2005 gemacht werden. Nützlicher als das folgenlose Lamento über die reformunwilligen Deutschen wird die Fähigkeit zum nüchternen Umgang mit den unerwünschten Nebenwirkungen sein. Denn die werden unweigerlich auftreten, vor allem bei Hartz IV. Wichtiger noch: Im Reformjahr 2005 haben Parteien, Politiker und Medien ihre Köpfe frei für die Frage, die viele Bürger zu Recht ängstigt. Was bleibt von der sozialen Demokratie?

Ein Diskussionsvorschlag am zweiten Tag des Jahres: Wie kann der Staat, der seinen Bürgern viel Verantwortung zurückgegeben hat, stark und handlungsfähig werden für die nächsten wichtigen Reformen? Für die öffentlichen Investitionen in Kinder, Integration, Familie, Schulen, Berufsausbildung und Universitäten.

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