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WM 2014 in Brasilien: São Paulo vor Eröffnungsspiel im Verkehrschaos

In São Paulo streiken seit Tagen die Bahn-Arbeiter, in Rio blockieren Lehrer und Angestellte die Straßen. Politik und Fifa fürchten nun, dass dadurch der Ablauf der Spiele gefährdet wird.

Die Politik und die Fifa fürchten, dass Proteste den Ablauf der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien gefährden könnten. Tatsächlich ist die Infrastruktur in Brasiliens Großstädten fragil. In São Paulo streiken seit Tagen die U-Bahn-Arbeiter, was dazu geführt hat, dass mit 293 Kilometern ein neuer Stau-Rekord aufgestellt wurde. Die Arbeiter drohen damit, den Ausstand auch am Donnerstag, dem Tag des Eröffnungsspiels, fortzusetzen, das in São Paulo stattfindet. Die U-Bahn ist das wichtigste Verkehrsmittel, um zum Stadion zu gelangen.

In Rio wiederum blockierten vor wenigen Tagen protestierende Lehrer und öffentliche Angestellte wichtige Verkehrsadern. Dies hat stets enorme Rückwirkungen, weil es in Rio nur eine Handvoll Verbindungsstraßen zwischen den Bevölkerungszentren im Süden und Norden gibt. Da Proteste in Brasilien nicht angemeldet werden müssen, sind sie schwer auszurechnen. Eine relativ kleine Zahl von Demonstranten könnte also die Anreise einer großen Zahl von Stadionbesuchern behindern. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff hat angekündigt: Das Recht der Fans auf die Spiele wird durchgesetzt. Was das heißen könnte, wurde in São Paulo klar, als die Polizei streikende U-Bahn-Angestellte angriff und brutal verprügelte.

Wie groß ist die Angst vor einem Imageschaden?

Es ist die zweite große Angst der Verantwortlichen. In den internationalen Medien herrscht mittlerweile ein Diskurs, der auf eine differenzierte und historisch fundierte Kritik der brasilianischen Verhältnisse verzichtet und sich stattdessen zu einem mit schadenfroher Note versehenen Satz verdichtet hat: Der Brasilianer kann es nicht! Dazu wurden entweder Bilder von unfertigen Stadien oder von brennenden Barrikaden gezeigt – so geschehen, als vor einigen Wochen die Bewohner einer Favela in Copacabana gegen Polizeiwillkür protestierten und anschließend getitelt wurde: Krieg in Rio. Um jeden Preis will man solche Schlagzeilen während der WM verhindern. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Sicherheitskräfte verhalten, die häufig unkontrolliert und bösartig agieren. Dass der Ex-Fußballspieler Ronaldo, Mitglied im WM-Organisationskomitee, gesagt hat, dass man den Knüppel auf die Demonstranten niederprasseln lassen müsse, verheißt nichts Gutes. 

Welche Sicherheitsvorkehrungen gibt es?

Es wurde das größte Aufgebot an Sicherheitskräften mobilisiert, das es jemals bei einer WM gab. Rund 60000 Soldaten werden zur Unterstützung von 100000 Polizisten unterschiedlichster Kategorien in Bereitschaft versetzt, um den Ablauf des Events zu sichern. Die Kosten für den Schutz der Veranstaltung sowie der kommerziellen Interessen der Fifa und ihrer Sponsoren, etwa bei den Fifa-Fanfesten, betragen umgerechnet mehr als 600 Millionen Euro. Sie werden vom brasilianischen Steuerzahler getragen. Bereits vor einigen Wochen hat die Armee die Favela Complexo da Maré in Rio de Janeiro okkupiert. Sie liegt zwischen zwei Zufahrtsstraßen zum internationalen Flughafen und wurde von verschiedenen kriminellen Fraktionen beherrscht.

Welche Rolle spielt das Organisierte Verbrechen in den Sicherheitsüberlegungen?

Schon 2008, ein Jahr nach der Entscheidung für Brasilien, wurde in Rio de Janeiro damit begonnen, in zentral gelegenen Favelas die sogenannte Befriedungspolizei zu stationieren. Rio ist der für die WM kritischste Ort, weil hier 75 Prozent der 600000 erwarteten ausländischen Besucher unterkommen, außerdem sieben Matches stattfinden. In den besetzten Favelas ist die Macht der Drogengangs nun begrenzt, und es wird nicht mehr geschossen. Dafür sind die Verbrechensraten in den Vororten nach oben geschossen. In São Paulo behauptet der im Gefängnis sitzende Chef von Brasiliens mächtigster Mafiaorganisation PCC, dass er seinen Leuten während der WM Ruhe befohlen habe. Es gibt Gerüchte über ein Stillhalteabkommen zwischen dem PCC und der Politik.

Ist absehbar, dass es politische Proteste während der WM geben wird?

Bereits für diesen Dienstag sind Demonstrationen aus Anlass des Fifa-Kongresses in São Paulo geplant. Auch am Morgen des Eröffnungsspiels soll in São Paulo und Rio de Janeiro protestiert werden. Allerdings rechnen die Veranstalter etwa in Rio de Janeiro nicht mit mehr als 5000 Teilnehmern. Es ist wahrscheinlich, dass während der WM unterschiedliche Gruppen die erhöhte Aufmerksamkeit nutzen werden und für ihre Interessen auf die Straße gehen – von Gewerkschaften über Landlose bis hin zu Indigenen. Ob es noch einmal zu Massenprotesten kommt, ist fraglich. Die Polizei hat durch ihr brutales Vorgehen im Zusammenspiel mit den manipulativen Medien dafür gesorgt, dass der einfache Brasilianer glaubt, dass Demonstrationen ein enormes Gesundheitsrisiko darstellen.

Wer sind die Demonstranten und was wollen sie?

In jeder brasilianischen Stadt existieren unterschiedliche Protestgruppen, die nur lose miteinander vernetzt sind. In São Paulo haben die Bewegung der Obdachlosen Arbeiter MTST sowie die Bewegung für den Nulltarif im Nahverkehr eine wichtige Rolle übernommen. In der zweitgrößten Stadt, Rio de Janeiro, ist das Volkskomitee der WM die wichtigste Referenz (siehe nebenstehendes Interview). Dann gibt es den kleinen, autonomen Schwarzen Block, der mit Randalen oft die Berichterstattung dominiert. Generell kann man sagen: Die Demonstranten kritisieren die exorbitanten Kosten der WM für eine Bevölkerung, der es an Grundlegendem mangelt, während eine kleine Elite sich schamlos bereichert. Die Copa gilt nicht zu Unrecht als Vehikel einer Umverteilung von unten nach oben. Die Mehrheit der Brasilianer teilt diese Sicht, auch wenn sie nicht demonstriert.

Gibt es eine Terrorismusgefahr?

Zwar haben Politiker und Medien viel daran gesetzt, den Schwarzen Block als Terrorgruppe darzustellen, doch das wollte niemand glauben. Dennoch gilt wie bei allen Großveranstaltungen auf der Welt, dass radikalisierte Einzeltäter oder kleine Gruppen aus dem In- und Ausland Attentate verüben können. Im brasilianischen Kongress liegt ein Anti-Terror-Gesetz bereit, das zurecht kritisiert wird, weil es auf die Kriminalisierung der Proteste abzielt.

Worauf müssen Besucher achten?

Das größte Sicherheitsrisiko sind Raubüberfälle und Diebstähle. In den Gegenden, in denen sich die Besucher konzentrieren, wird die Militärpolizei verstärkt patrouillieren. Man sollte sich bewusst sein, dass man in einem der ungerechtesten und gewalttätigsten Länder der Welt ist. Im Jahr 2012 wurden, so eine gerade veröffentlichte Statistik, 56300 Brasilianer ermordet – die höchste Zahl seit 1980.

Wie ist die Stimmung im Land?

Die Stimmung oszilliert zwischen dem Zorn auf die Politik sowie die Fifa und der Vorfreude auf den Fußball. Von Euphorie ist bisher aber wenig zu spüren. Das mag sich ändern, sobald die brasilianische Nationalmannschaft die ersten Tore schießt. Sollten die Brasilianer allerdings schon vor dem Halbfinale ausscheiden, könnte sich die angestaute Wut Bahn brechen. Viele werden sich fragen: Für wen oder was haben wir eigentlich die Kosten und Zumutungen auf uns genommen?

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