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Politik: Wo der Terror wohnt

Schon schien es, als sei Al Qaida besiegt. Aber die jüngste Serie von Anschlägen sagt etwas anderes aus: Das Netzwerk ist sogar erstarkt. Nur hat es sich dem Fahndungsdruck und der neuen Wachsamkeit nach dem 11. September angepasst. Und tritt jetzt in verschiedener Gestalt auf. (22.11.2003)

TERRORISTEN - WER KANN UNS GEFÄHRDEN?

Al Qaida sei so gut wie tot, beinahe zerschlagen, haben in diesem Jahr manche Sicherheitsexperten gesagt. Vielleicht haben sie mehr gehofft als geglaubt, doch das Resultat ist identisch: Die Analysen waren ein Irrtum. Al Qaida agiert, bombt und lässt bomben. Die Anschlagserie in Istanbul, vermutlich zahlreiche Attacken im Irak sowie das verheerende Attentat vor zwei Wochen in der saudischen Hauptstadt Riad zeugen von mörderischer Vitalität. Doch Al Qaida ist nicht mehr gleichzusetzen mit der Organisation, die den Terrorangriff des 11. September geführt hat. Nach der US-Invasion in Afghanistan hat sich Al Qaida den neuen, schwierigen Bedingungen angepasst. Es wird mehr inspiriert und weniger initiiert. Dennoch ist Al Qaida bei fast jedem größeren Anschlag der islamistischen Terrorinternationale beteiligt.

Osama bin Laden beschränkt sich in seinem Versteck im bergigen afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet auf die Rolle eines Gurus, der per Video auftaucht, zuletzt am zweiten Jahrestag des 11. September. Doch sein Stellvertreter, der Ägypter Aiman al Zawahiri, ist als Organisator weiter aktiv. Außerdem wurde bisher nur etwa die Hälfte der Führungsmannschaft festgenommen oder getötet. Und vom Fussvolk sind 2000 bis 3000 Kämpfer den Amerikanern entkommen. Die meisten haben sich in ihre Heimat zurückgezogen. Dort verstärken sie die militanten Islamistenmilieus, in denen sich bereits zehntausende "Veteranen" befinden. So verändert sich das Netzwerk des islamistischen Terrors, die operative Bedeutung der Al- Qaida- Zentrale nimmt ab. Die neuen Akteure wüten im Sinne bin Ladens, auf der ganzen Welt.

Irak: Mehrere Anschläge, darunter die auf die jordanische Botschaft in Bagdad und das UN-Hauptquartier, schreiben Experten den Gruppen Ansar al Islam ("Partisanen des Islam") und Al Tawhid ("Einheit aller Gläubigen") zu. Ansar al Islam setzt sich aus Kurden und geflohenen arabischen Afghanistan- Kämpfern zusammen. Im Nordirak hatte sich die Gruppe einen Mini-Gottesstaat erkämpft (und mit Giftstoffen experimentiert), zu Beginn des Irakkriegs wurde sie von Kurden und US-Truppen nach Iran vertrieben. Hunderte Gotteskrieger kehrten zurück in den Irak.

Pakistan: Zahllose Islamistengruppen stehen in Kontakt zu Al Qaida und den Taliban. Als die US-Armee Afghanistan angriff, versuchte vor allem Lashkar-e-Toiba ("Armee der Reinen"), Netzwerkstrukturen der geschwächten Al Qaida zu ersetzen und half geflohenen Kriegern. Lashkar-e-Toiba, etwa 300 Mann stark, kämpft für die "Befreiung" des indischen Teils Kaschmirs - und für einen Gottesstaat, der den ganzen Subkontinent umfasst. Die indischen Behörden machen Lashkar-e-Toiba und die mit ihr verbündete Gruppe "Students Islamic Movement of India (Simi)" für die zwei schweren Anschläge vom 25. August in Bombay verantwortlich.

Saudi-Arabien: Im Königreich am Golf, aus dem Osama bin Laden stammt und 15 der 19 Selbstmordpiloten des 11. September kamen, verübt Al Qaida die Anschläge offenbar selbst. Mit dem Angriff vom 8. November in Riad habe sich die Terrororganisation jedoch selbst geschadet und reichlich Sympathien verloren, sagen Sicherheitsexperten.

Indonesien: Im Verbund mit Al Qaida hat die Jemaah Islamijah ("Islamische Gruppe") ein Zellensystem aufgebaut - nicht nur in Indonesien, sondern auch in Malaysia, Thailand, auf den Philippinen, in Brunei, Singapur, Kambodscha und vermutlich Australien. Die im Oktober 2002 auf Bali verübten Attentate und der Anschlag vom 5. August 2003 auf das Marriott-Hotel in Djakarta gehen auf das Konto der Jemaah Islamijah. Die Vereinigung, die ein islamistisches Großreich in Südostasien anstrebt, gilt als Paradebeispiel für das Zusammenwirken von Al Qaida und regionalen Gruppen: Als Chefplaner der Anschläge auf Bali und in Jakarta gilt der im August festgenommene Al-Qaida-Verbindungsmann und operative Chef der Jemaah Islamijah, Riduan Isamuddin, alias Hambali. Über Jemaah Islamijah hält Al Qaida außerdem Kontakt zu militanten Islamistengruppen auf den südlichen Philippinen, vor allem zu Abu Sayyaf (Kidnapper der Göttinger Familie Wallert) und der Moro Islamic Liberation Front (Milf).

Ostafrika: Gemeinsam mit der somalischen Al Ittihad al Islami ("Einheit des Islam") hat Al Qaida die Anschläge vom November 2002 in Kenia organisiert. Ein israelisches Hotel wurde gesprengt, zwei Boden-Luft-Raketen verfehlten eine israelische Passagiermaschine nur knapp. Die etwa 250 Kämpfer zählende Al Ittihad al Islami will in Ostafrika einen Gottesstaat errichten. Kontakte bestehen zu islamistischen Gruppen im Jemen, aus dem ein Teil des Clans von Osama bin Laden stammt.

Nordafrika: Ägyptische Islamisten um bin Ladens Stellvertreter Aiman al Zawahiri bilden einen der großen Blöcke bei Al Qaida. In Tunesien hat die Organisation den Anschlag auf der Ferieninsel Djerba dirigiert. Mit den algerischen Terrorgruppen Groupe Islamique Armé (GIA) und Groupe salafiste pour la Prédication et le Combat (GSPC) unterhält Al Qaida Kontakte. An der Entführung der Sahara-Touristen durch ein GSPC-Kommando war Al Qaida jedoch vermutlich nicht beteiligt. In Marokko verübte die Salafia Djihadia am 16. Mai schwere Anschläge - offenbar hat Al Qaida in diesem Fall "nur" geistige Hilfestellung geleistet und damit die Effizienz regionaler Terror-Autonomie bewiesen.

Europa/Nordamerika: Zellen militanter Islamisten, mit mehr oder weniger engen Al-Qaida-Kontakten, vermuten Sicherheitsexperten in ganz Westeuropa, in den USA und in Kanada. Als besonders gefährlich gelten in Europa algerische Gotteskrieger. Sie werden vor allem in Paris, London und Frankfurt/Main vermutet. (Frank Jansen) ()

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