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Politik: Wo die Rente sicher ist

Könnte die Schweizer „Volksversicherung“ ein Modell für Deutschland sein? Die Meinungen der Experten liegen weit auseinander

Berlin - Wenn Otto Piller über die Rentenversicherung spricht, dann klingt das wie ein Bericht aus Utopia. Seit 31 Jahren „sind die Beiträge nicht erhöht worden“, erklärt er, die Einnahmen hätten „immer gereicht“. In 2005 sei sogar ein milliardenschwerer Überschuss erzielt worden. Fast 90 Prozent der Jahresrenten stehen in der Reserve und bringen gute Zinserträge. Und die Demografie? Ja, die Zahl der Rentner nehme zu, räumt Piller ein, aber das dürfe man „nicht überbewerten“. Entscheidend sei nicht Zahl der Versicherten, „sondern nur die Entwicklung der Wirtschaft.“ Solange das Volkseinkommen insgesamt wachse, „können wir das ausgleichen“.

Piller ist kein Fantast, sondern Schweizer. Als ehemaliger Präsident des Bundesamtes für Sozialversicherung in Bern hat er schon so manchen Besucher aus Deutschland verblüfft. Und während die Deutschen ihr eigenes Rentensystem für hoffnungslos zerrüttet halten, steht die „Alters- und Hinterlassenversicherung“ (AHV) bei den Schweizern hoch im Kurs. Gibt es ihn also doch, den Königsweg zur sicheren Rente trotz Alterung der Gesellschaft? Und könnte Deutschland diesem Beispiel folgen?

Auf den ersten Blick spricht viel dafür. Denn die klassische Umlageversicherung der Schweiz, in der die Erwerbstätigen für die Rentner aufkommen, ist weit stabiler angelegt als hier zu Lande. Während in Deutschland nur auf die Löhne der abhängig Beschäftigten Beiträge erhoben werden, hat die Schweiz eine „echte Volksversicherung“ (Piller). Jedermann muss ab dem 18. Lebensjahr für die Alten aufkommen, gleich ob Arbeiter, Student, Unternehmer oder Einkommensmillionär. Arbeitnehmer zahlen 10,1 Prozent und Selbstständige 9,2 Prozent, nur halb so viel, wie hier zu Lande fällig ist. Darin enthalten ist wie in Deutschland auch ein Rentenanrecht bei Erwerbsunfähigkeit. Zusätzlich zu den Beiträgen werden 20 Prozent aller Rentenleistungen aus Steuermitteln gedeckt.

Der niedrige Beitragssatz ist zudem zwei weiteren Bedingungen geschuldet, die das Schweizer System grundsätzlich vom deutschen unterscheiden. Es gibt keine Bemessungsgrenze, gleichzeitig sind die Rentenansprüche nach oben begrenzt. Darum zahlt etwa auch Daniel Vasella, Chef des Pharmakonzerns Novartis mit einem Jahresgehalt von 20 Millionen Schweizer Franken rund zwei Millionen Franken Rentenbeitrag. Trotzdem wird er später auch nur die Höchstrente von 2150 Franken monatlich erhalten, nach derzeitigem Kurs also nur 1390 Euro. Die Mindestrente beträgt sogar nur 1075 Franken (695 Euro). Die Anpassung dieses Rentenkorridors folgt alle zwei Jahre dem Mittel aus Inflationsrate und der Zunahme der Lohnsumme. Auf diesem Weg bringt die AHV zwar nur bescheidene Alterseinkünfte, aber sie sind sicher. Der Generationenvertrag steht und sorgt für eine erhebliche Umverteilung von Reich zu Arm. „Einer wie Vasella zahlt gut 100 Durchschnittsrenten“, sagt AHV- Experte Piller.

Dieses Prinzip macht die Schweizer Renten weitgehend immun gegen die auch dort zunehmend ungleiche Verteilung der Einkünfte und Schwankungen am Arbeitsmarkt. Entscheidend ist allein das insgesamt erzielte Einkommen. Darum konnten die Schweizer bislang auch den demografischen Wandel gut verkraften. Zwar stieg auch dort seit 1975 die Zahl der Rentner um 61 Prozent. Doch dies wurde ausgeglichen durch die wachsende Erwerbsbeteiligung von Frauen und die bei steigender Produktivität gewachsenen Löhne. Den Rest brachte eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um ein Prozent zu Gunsten der AHV 1999. Vor diesem Hintergrund ist den Schweizern trotz steigendem Altenanteil wenig bange. Notfalls werde man noch mal „ein oder zwei Prozent Mehrwertsteuer“ zulegen, erwartet Rentenexperte Piller. Das sei zu verkraften, schließlich stehe der Satz heute bei 7,5 Prozent, weit unter dem europäischen Mittel.

Demgegenüber folgt das deutsche System einer ganz anderen Logik. Die Rentenbeiträge sind degressiv angelegt, weil jenseits von 63 000 Euro Jahreseinkommen keine Beiträge mehr fällig werden. Wer mehr verdient, zahlt anteilig weniger. Vorstandsmitglieder deutscher Aktiengesellschaften sind sogar grundsätzlich vom Beitrag zur Rente befreit. Weil zudem Beamte, Unternehmer und Selbstständige nicht beteiligt sind, wird rund ein Drittel des deutschen Volkseinkommens gar nicht zur Beitragszahlung herangezogen. Und obendrein lastete die Kohl-Regierung die Renten der früheren DDR-Bürger voll dem Umlagesystem an, obwohl dem viel zu wenig abgabepflichtige Arbeitsplätze gegenüberstanden. Darum schlagen die Polarisierung der Einkommen und der Abbau von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen zu Gunsten von Minijobs und Scheinselbstständigen voll auf die Einnahmen durch und verursachen eine Krise nach der anderen. Die Belastung durch die längere Lebenserwartung kommt da noch oben drauf. Folglich senkten die letzten vier Bundesregierungen ständig die Leistungen. Kein Wunder, dass die Deutschen dem System nicht mehr trauen.

Gemessen daran sei das Schweizer System „sicherer gegen wirtschaftliche Schwankungen“, räumt auch der Rentenexperte Bert Rürup ein. „Wenn wir ganz von vorne anfangen würden, könnten wir es auch so machen“, so Rürup. Doch dagegen spreche das in Deutschland geltende „Prinzip der Teilhabeäquivalenz“. Das heißt, niemand darf weniger Rente erhalten, als er an Beiträgen gezahlt hat. Eine Umverteilung wie im Schweizer System sei in Deutschland verfassungsrechtlich nicht haltbar. Die Einbeziehung der Selbstständigen und Beamten und die Aufhebung der Bemessungsgrenze seien zwar möglich, aber keine Lösung, weil später entsprechend hohe Ansprüche daraus erwachsen würden. Dieser von vielen Fachleuten vertretenen Auffassung hat sich die Politik bisher stets gebeugt.

Doch das angebliche Verfassungsgebot zur „Äquivalenz“ zwischen Beiträgen und Leistungen ist keineswegs unumstößlich. Mindestens gleichrangig sei auch das Gebot zum sozialen Ausgleich, meint etwa die Frankfurter Verfassungsrechtlerin Anna Lenze, die in ihrer Habilitationsschrift zu dem Schluss kommt, eine Umstellung nach Schweizer Vorbild sei rechtlich durchaus möglich. Ohnehin, so Lenze, sei rechtlich nicht zu begründen, warum die „Äquivalenz“ für die Renten gelten solle, während sie in der Krankenversicherung noch nie vorgesehen war und bei der Arbeitslosenversicherung praktisch abgeschafft wurde. Auch der Darmstädter Familienrichter Jürgen Borchert hält das Äquivalenzgebot für einen „kapitalen Bären, den die Priester der rentenchinesischen Mandarinkultur dem Volk aufbinden“. Tatsächlich sei der soziale Ausgleich „konstitutiv für Sozialversicherung“, ein Veto der Karlsruher Richter gegen eine Bürgerversicherung nach Schweizer Vorbild sei höchst unwahrscheinlich, ihre Einführung überfällig.

Das sehen selbst junge Leute so, die doch nach gängiger Meinung vom Umlageprinzip benachteiligt werden. Der „wahre Systembruch“ sei der von Regierung und Finanzwirtschaft propagierte Umstieg auf die Privatvorsorge, warnt der Regensburger Student Wolfgang Gründinger, der die deutschen Mitglieder der Jugendorganisation „Youth for Intergenerational Justice and Sustainability“ in dieser Frage vertritt. Schon jetzt könnten sich Millionen Geringverdiener gar keine private Altersvorsorge leisten. Nötig sei daher „nicht die Beschränkung, sondern der Ausbau der Umlageversicherung“. In der Schweiz werde der Generationenvertrag abgesichert, in Deutschland dagegen „systematisch schlecht geredet und demontiert“. Den Schaden, so Gründinger, hätten „vornehmlich die Jüngeren“.

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