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Politik: Wohin soll das noch führen, Herr Müntefering?

Der SPD-Fraktionschef über Konsum, Steuern – und Urlaub

Herr Müntefering, wie wäre es mal wieder mit ein bisschen Urlaub?

Hab ich lange nicht mehr gemacht, stimmt.

Hätten Sie es denn nötig?

Nö. Warum? Oder finden Sie das etwa?

Das hätte Ihnen und dem Land vielleicht ganz gut getan, wenn Sie und ihre Kollegen sich nach der Wahl etwas Ruhe gegönnt hätten. Dann wäre vielleicht weniger schief gelaufen.

Wenn man so eine Wahl wie die Bundestagswahl gewinnt, ist man erst mal euphorisiert und bärenstark. Auf der Strecke merkt man dann, dass doch ein bisschen weniger Kraft da ist. Aber im Ernst: Wir hatten keine Alternative. Wir wollten, dass die ersten Gesetze am 1. Januar in Kraft treten. Dann wussten wir, dass im November eine Steuerschätzung kommt und dass am 2. Februar Landtagswahl sein wird. Da war keine Zeit fürs Ausspannen.

Sind Sie überhaupt in der Lage, so richtig Urlaub zu machen?

Vielleicht nicht. Mal einfach so zu hundert Prozent rauszuspringen und gar nichts zu machen, keine Zeitung, kein Radio, das können die meisten von uns gar nicht. Das wäre auch ungesund.

So scheint es ungesund für das Land gewesen zu sein.

Überhaupt nicht. Diese Koalition hat bisher sehr gute Arbeit geleistet. Wir hatten in einigen Punkten nur ein Problem mit der Darstellung nach außen. Das ist nicht alles optimal gelaufen.

Sie beten gerade die StandardEntschuldigung nach: Das Produkt ist in Ordnung, nur die Verkaufe ist falsch.

Mag sein. Es ist aber so.

Auch nach der Regierungsbildung erwecken die Grünen den Anschein, als seien sie für das Gute und Schöne zuständig, während sich die SPD an den Sachzwängen abmüht. Ist das gut für das Bild einer geschlossenen Regierung?

Die Fakten sind anders. Schöne Sprüche klopfen führt nicht weiter. Ganz gleich welche Farbe sie haben. Ich registriere dies und das, bleibe aber gelassen. Zeiten ändern sich, das haben sie so an sich.

Sehr mager, Ihre Selbstkritik.

Selbstkritik ist gut, Selbstbewusstsein auch. Wir haben sicher zu viel und zu lange über einzelne Sparmaßnahmen diskutiert. Wir hätten vorher unsere Leitplanken und Eckpunkte festlegen und uns dann 14 Tage Zeit für die Einzelmaßnahmen nehmen sollen. Das wäre klüger gewesen. Dennoch, was wir machen, ist richtig: Weniger für den privaten Konsum – und dem Staat Geld geben, damit Bund, Länder und Gemeinden ihre Aufgaben erfüllen können. Dazu muss man sich auch bekennen.

Den privaten Konsum schwächen, den Staat stärken, ist das die lang ersehnte Signatur der Regierung?

Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat. Das wissen inzwischen alle. Wir müssen investieren in den Erhalt und den Ausbau der Infrastruktur: bei Verkehrsprojekten, im Baubereich, in Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser. Wenn der Staat sich aber nicht groß neu verschulden darf und das Wachstum gering ist, dann ist das auch eine Herausforderung an den Konsum. Allerdings mit der guten Perspektive, dass wir so die Zukunftsfähigkeit des Landes sichern. Den Wohlstand sichern also. Die Leute wissen, dass Dinge sich verändern, und wollen in dieser Veränderung die höchstmögliche Sicherheit. Unser zwei Jahre alter Begriff von „Sicherheit im Wandel“ trifft das Grundgefühl der Menschen immer noch besser als alles andere.

Wir haben dank Rot-Grün also wieder einen starken Staat?

Einen handlungsfähigen. Starker Staat klingt mir zu autoritär.

Der Bürger hat aber das Gefühl, der Staat sei autoritär, weil er bestimmt, was der Einzelne noch machen kann.

Das stimmt doch gar nicht. Wir haben die Steuern zweimal gesenkt, deutliche Schritte werden 2004 und 2005 folgen. Wir sorgen für stabile Beiträge bei Rente und Krankenversicherung. Wir eröffnen Bildungschancen. Das ist keine Politik der Bevormundung. Und wir haben die Staatsquote von 49,5 auf 48,6 Prozent gesenkt, das sind Milliarden.

Wenn vor allem die Schwachen einen starken Staat brauchen, warum haben dann die vielen Arbeitslosen immer noch nicht vom rot-grünen Staat profitiert?

Der Staat kann nicht alleine Arbeitsplätze schaffen. Daran müssen viele mitwirken. Was wir jetzt mit dem Hartz-Konzept machen, geht in die richtige Richtung.

Aber Peter Hartz mault ja schon, dass man so, wie die Regierung sein Konzept jetzt umsetze, die Arbeitslosigkeit nicht um zwei Millionen Menschen reduzieren könne.

Das geht nicht so schnell, wie er sich das vielleicht vorgestellt hat. Wir haben seine Zahlen übrigens nie zu unserem Ziel gemacht. Der Staat ist eben kein Unternehmen, in dem der Vorstand einfach Kommandos gibt. In der Politik kann man gewisse Dinge nur in großer Koalition mit der Bevölkerung durchsetzen. Wir müssen kompromissfähig bleiben und uns etwas mehr Zeit nehmen. Aber wir sind auf dem Weg zu Hartz 1:1.

Einige Unternehmer haben jetzt schon keine Geduld mehr mit dieser Regierung und kündigen an, aus Deutschland abzuwandern.

Das ist ein Patriotismus der besonderen Art. Das ist unglaublich. Die meisten Unternehmen haben in den letzten vier Jahren weniger Steuern gezahlt als jemals zuvor. Wenn die Unternehmer jetzt abhauen wollen, weil sie überhaupt Steuern zahlen sollen, hat das nichts mit sozialer Verantwortung zu tun. Was ist denn das für eine Moral? Wirtschaft ist für die Menschen da. Und nicht umgekehrt.

Und die Regierung sollte für die Bürger da sein. Die Unzufriedenheit der Bürger mit Rot-Grün ist aber so groß wie nie zuvor.

Auch mit der Opposition sind sie unzufrieden. Es geht um einen generellen Zweifel an der Politik. Aber ich will unsere Situation nicht beschönigen. Die Zustimmung für uns ist tief gesunken.

Wie tief?

So tief, dass die Zahlen an andere Zeiten erinnern.

An das Jahr 1999, die Zeit nach dem Rücktritt Oskar Lafontaines?

Ein bisschen, ja. Wobei ich glaube, dass unsere Situation heute besser und stabiler ist als die vom Herbst 1999. Ich schätze das alles nicht so pessimistisch ein. Ich glaube, dass es uns gelingen wird, zu vermitteln, dass das, was wir machen, das einzig Richtige ist. Das Problem der letzten Wochen war, dass sich vieles im Detail verloren hat und die Zielrichtung nicht ausreichend erkennbar war.

Sie meinen wohl die erhöhte Mehrwertsteuer auf Schnittblumen.

Zum Beispiel.

Bleibt es denn wenigstens beim geringeren Steuersatz auf Trockenblumen?

Das wird bleiben.

Was Sie bisher gemacht haben, hat Ihnen einen dramatischen Vertrauensverlust beschert. Wohin soll das noch führen?

Wir mussten eine Entscheidung treffen: Wir nehmen für die nächsten Jahre Prognosen an, die sehr viel bescheidener sind, als wir es vorher hatten. Man hätte sich auch durchwursteln können. Wir aber gehen jetzt von einer relativ hohen Arbeitslosigkeit aus, haben die Wachstumsprognose gesenkt von 2,5 auf 1,5 Prozent, den Rentenversicherungsbeitrag auf 19,5 Prozent erhöht. Nach aller Wahrscheinlichkeit ist dies eine Basis, auf der wir uns die nächsten zwei Jahre gut bewegen können, ohne dass jedes halbe Jahr der Eindruck entsteht: Das stimmt alles nicht mehr. Ich glaube, dass auf dieser realistischen Grundlage auch wieder Vertrauen wächst.

Jetzt können keine neuen Hiobsbotschaften mehr kommen?

Der Himmel kann immer einstürzen. Was ein Irak-Krieg für unsere Wirtschaft bedeuten würde, weiß ich zum Beispiel nicht. Aber was man vorausschauen kann, das haben wir in den Prognosen beachtet. Wir segeln jetzt so hart am Wind, wie es möglich ist.

Herr Bökel und Herr Gabriel werden sich bedanken, dass jetzt zwei Jahre nötig sind, um das Vertrauen wiederzugewinnen.

Wenn es die Wahl Anfang Februar nicht gäbe, wäre die aktuelle Dramatik viel geringer. Offenbar läuft der Bundestagswahlkampf bei einigen auf der anderen Seite noch weiter. Sonst würde man erkennen: Was die Regierung gerade macht, dass ist eine Plafondierung. Und auf dieser Plattform wird modernisiert und Gerechtigkeit ermöglicht.

Aber die Landtagswahlen müssen Sie trotzdem schon jetzt verloren geben.

Unsinn. Die Wahlen sind ebenso wenig entschieden, wie dies bei der Bundestagswahl zwei Monate vorher der Fall war. Es entscheidet sich in den letzten zwei bis drei Wochen.

Hat sich für Sie persönlich seit dem Wahlabend viel verändert?

Dass ich Fraktionsvorsitzender werden würde, hat sich ja erst am Freitag vor der Wahl konkretisiert. Ich mache das gerne, auch wenn die Arbeit völlig anders ist als noch als Generalsekretär. Es geht jetzt für mich viel mehr um das Inhaltliche, weniger um das Parteitaktische.

Ihr Führungsstil soll noch autoritärer geworden sein. Gerade die jungen und neuen Abgeordneten sagen das.

Ich glaube nicht, dass ich autoritär bin. Ich weiß aber, dass demokratisch legitimierte Macht Mehrheiten braucht und dass manchmal großer Zeitdruck unvermeidlich ist.

Ihr Vorgänger Peter Struck hat einmal gesagt, es sei theoretisch auch kein Beinbruch, wenn die Koalition mal keine eigene Mehrheit zusammenbrächte. Sehen Sie das ähnlich?

Ich werde mich immer darum bemühen, eine eigene Mehrheit zu haben. Diese in bestimmten Fragen nicht zu haben, ist für die Handlungsfähigkeit einer Koalition nicht hilfreich. Auch für die Autorität einer Regierung nicht. Aber wir haben alle dazugelernt. Das gilt auch für mich.

Der Fraktionschef galt bisher immer auch als Kanzleraspirant. Ist das mit Ihnen immer noch so?

Ich denke nicht an so etwas. Wir haben einen guten Kanzler und brauchen keinen Aspiranten.

Zur Zeit wird viel über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit diskutiert. Sie sind jetzt 62. Wann wollen Sie denn in Rente gehen?

Ich habe mir die Dauer dieser Legislaturperiode vorgenommen. Dann wird man weitersehen. Ich denke generell, dass wir mit dem tatsächlichen Renteneintrittsalter wieder an die 65 Jahre herankommen sollten. Dass heute nur noch 39 Prozent der über 54-Jährigen berufstätig sind, ist eines unserer großen Probleme.

Warum flexibilisieren Sie das Renteneintrittsalter nicht völlig?

Das würde dazu führen, dass bestimmte Berufe und einzelne Leute bis zum 70. Lebensjahr arbeiten, andere aber mit 50 aus dem Job ausscheiden. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass 55-Jährige allgemein in Deutschland für nicht mehr betriebsfähig gehalten werden.

Wir haben aber heute schon vier Millionen Arbeitslose. Und was ist mit den Jungen?

Wir haben in Deutschland eine ganze Menge Arbeit, die von Menschen getan wird, die nicht dauerhaft in diesem Lande leben. Weil das Arbeit ist, die in Deutschland vom Status her nicht akzeptiert wird oder die nicht hinreichend gut bezahlt ist. Das müssen wir ändern.

Wer also Arbeit haben will, muss seinen Anspruch an die Qualität der Arbeit senken?

Es gibt eine Anpassungsnotwendigkeit nach unten und eine nach oben. Die Unternehmen sagen, uns fehlen 100 000 Ingenieure. Zugleich gibt es aber wachsende illegale Beschäftigung. Auch Zuwanderung. Wenn wir die Arbeit, die es in Deutschland gibt, nicht selbst tun, dann müssen wir sie von anderen Menschen tun lassen – und müssen die Leute, die keine Arbeit haben, mit Sozial-, Arbeitslosenhilfe oder Frührente bezahlen. Noch mal: Das geht nicht.

Damit Ihre Rechnung aufgeht, brauchen Sie eigentlich eine Arbeitsmigration, die gegen Null geht.

Es ist richtig, wenn man bei der Arbeitsmigration restriktiv ist. Es kann nicht sein, dass sich Unternehmen 100 000 Ingenieure zwischen 30 und 35 Jahren holen und die inländischen Ingenieure über 45 den Job verlieren, weil sie zu alt sind. Da müssen wir was für Weiterbildung und Qualifizierung tun. Vor allem die Unternehmen.

Wir brauchen also gar keine qualifizierten Zuwanderer?

Weniger als behauptet, in diesem Jahrzehnt ganz wenig.

Was halten Sie denn von dem Modell, das Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück jetzt vorgeschlagen haben, eine Steuer konkret zweckgebunden zu erheben, in diesem Falle die Vermögensteuer für die Bildung?

Der Grundgedanke ist gut. Das ist meinem Denken sehr nahe, weil man den Menschen schon sagen muss, wofür man ihre Steuern verwenden will.

Und demnächst erhöhen Sie dann die Mehrwertsteuer? Vielleicht am 3. Februar?

Ein generelle Erhöhung schließe ich aus, auch nach dem 2. Februar.

Und eine zeitlich befristete Steuererhöhung für einen bestimmten Zweck?

Der Gedanke muss einem nicht fremd sein, allerdings ist eine Steuer keine Gebühr. Aber die Ökosteuer läuft ja auch in die Rentenkasse.

Das Interview führten Stephan-Andreas Casdorff, Markus Feldenkirchen, Ingrid Müller und Peter Siebenmorgen.

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