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Politik: Würden Sie die Praxisgebühr einkassieren, Frau Kühn-Mengel? Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung über verunsicherte Kranke,

ihren Ärger mit Ärzten und Kassen – und über Watschn

Frau KühnMengel, in Bayern gibt es den schönen Begriff „Watschnmann“. Das ist einer, der für andere die Prügel einsteckt . . .

Sie meinen, ich bin jetzt die Watschnfrau?

Wie heftig müssen Sie denn einstecken?

Das hält sich in Grenzen. Selbst zu Beginn des Jahres, wo ich außerordentlich viel Post, Anrufe und E-Mails bekommen habe, war der Anteil derer, die mich beschimpft haben, sehr gering. Die meisten rufen an oder schreiben wegen persönlicher Anliegen, wegen Erfahrungen, die sie gemacht haben oder wegen ihrer persönlichen Lebenssituation. Sie fragen: Falle ich unter die Chronikerregelung? Sie haben Fragen zur Zuzahlung, zu Überweisungen oder zur Fahrtkostenerstattung.

Sie sind also eher Ratgeberin als Ventil?

Ja, ich verstehe mich als Ratgeberin, als Übersetzerin schwieriger Regelungen und nicht zuletzt als jemand, der hofft, dass er auch strukturell was bewirken kann. Aufgefallen ist mir allerdings, wie schlecht die Patientinnen und Patienten informiert sind.

Woran liegt das?

Schwer zu sagen. Bei vielen Sachen habe ich gedacht, warum hat denen das nicht die Frau oder der Mann von der Krankenkasse um die Ecke erzählt. Oder eine Arzthelferin in einem Halbsatz. Wenn eine 88-Jährige ohne Überweisung zum Augenarzt kommt und versichert, dass sie ihre Gebühr beim Hausarzt bezahlt hat, muss man sie nicht den Weg nochmal zurücklegen lassen. Da braucht es oft nur ein wenig mehr Mitdenken oder Anstand.

Ist das Tempo der Reformen zu hoch? Überfordert es die Bürger?

Ich denke, dass die vielen Bemühungen, die Systeme zu stabilisieren, für die Bürger schwer nachvollziehbar sind. Und die Praxisgebühr ist zu einer Art Symbol geworden. Die Menschen machen daran ihr Gefühl fest, dass sich Vertrautes verändert. Sie fühlen sich unsicher und denken: Da bleibt nichts, wie es war. Dabei bleibt vieles, wie es war. Das ist ja gerade unser Anliegen. Die Sicherungssysteme zu stabilisieren – trotz einer anderen Generationenentwicklung und eines anderen Altersaufbaus der Gesellschaft.

In Norddeutschland vermelden die Ärzte Patientenrückgänge von bis zu 30 Prozent. Ist das für Sie ein Erfolg oder eher beängstigend?

Erst einmal müssen wir langfristige Entwicklungen abwarten. Wir wissen, dass im Dezember viele Versicherte noch einmal ihre Ärzte vor Inkrafttreten der Reform besucht haben. Wir wissen aber auch, dass die Deutschen mit 560 Millionen Arztbesuchen Weltmeister sind und das bei nur mäßigem Erfolg: Unsere durchschnittliche Lebenserwartung bewegt sich im Vergleich mit anderen westlichen Ländern nur im Mittelfeld.

Ihr Parteikollege Harald Schartau in NRW will jetzt wieder die Rolle rückwärts und vieles zurückgenommen haben. Was halten Sie davon?

Ich schätze Harald Schartau sehr. Und ich habe das alles auch nicht mit Jubel und Begeisterung gemacht. Aber jeder, der jetzt sagt, dies oder jenes muss zurückgenommen werden, muss auch sagen, wie er die Finanzierungslücke schließen will. Das Ganze ist ein Paket, und es ist unter großen Auseinandersetzungen mit der Opposition zustande gekommen. Ich war ja selber dabei, das war kein Waldspaziergang. Ich hätte mir schönere Sommer vorstellen können.

Die Praxisgebühr soll also bleiben?

Ja, die ist Teil des Konzepts. Ich hoffe aber, dass einiges über die Bonusprogramme, die die Krankenkassen demnächst anbieten können, wieder ausgeglichen wird. Die Kassen müssen ja ein Hausarztmodell haben und sie können sagen: Wenn du zuerst zum Hausarzt gehst, dann streichen wir für dich die Praxisgebühr. Von einigen Kassen weiß ich, dass sie an solchen Entwürfen stricken.

Ist es nicht frustrierend, für Dinge kritisiert zu werden, die Ihnen die Union eingebrockt hat?

Ja, das ist schwierig. Aber ich stehe zu dem Ganzen. Ich habe meine Unterschrift unter das Gesamtpaket gesetzt und verkaufe es jetzt auch so. Ich bin dann zwar der Prellbock, aber ich versuche auch zu erklären, dass es ein Kompromiss war.

Die Union springt Ihnen da wenig bei.

Die haben natürlich die leichtere Position. Sie können sich zurücklehnen und zugucken, wie wir kritisiert werden. Und die Leute regen sich bei uns tatsächlich auch über Elemente auf, die von den andern sind. Ich weiß noch gut: In unserem Entwurf stand 1,7 Milliarden Euro Zuzahlung. Die CDU hatte 7,7 Milliarden. Das Vierfache. Und geeinigt haben wir uns bei drei Milliarden. Oder die Praxisgebühr. Nach unserem Plan sollte die bei denen entfallen, die erst zum Hausarzt gehen. Sie war gedacht als steuerndes Element.

Ändert sich durch den Wechsel an der Parteispitze etwas in der Gesundheitspolitik?

Das Gesetz steht. Franz Müntefering hat klar gemacht, dass es keine Korrekturen geben wird. Ich finde den Wechsel in Ordnung. Gerhard Schröder ist als Kanzler dafür zuständig, nach außen für die innovativen Reformen zu kämpfen. Müntefering hält Fraktion und Partei zusammen. Nicht dass Sie mich missverstehen: Auch Schröder hat ein sozialdemokratisches Herz. Aber er und Müntefering haben unterschiedliche Methoden. Die neue Arbeitsteilung zwischen Schröder und Müntefering finde ich gewinnbringend.

Für Ärger hat auch gesorgt, dass vieles zum 1. Januar nicht fertig war: die Definition chronischer Krankheiten für Zuzahlungsbefreiungen, die Liste verschreibungsfähiger Medikamente.

Mit dem Gesetz gab es Aufträge an verschiedene Partner. Ärzte und Krankenkassen sollten sich auf Richtlinien einigen. Die Chronikerliste war rechtzeitig fertig. Aber sie war so schmal, dass es fast eine Provokation war. Mein Eindruck war: Die Kassen wollten unbedingt sparen, und die Ärzte wollten, dass wir Ärger kriegen. Es war richtig, dass die Ministerin gesagt hat, da müsst ihr nacharbeiten. Aber dadurch ist ein Zeitkorridor entstanden, der die Menschen verunsichert hat.

Haben Sie auch den Eindruck, dass bestimmte Leistungserbringer, Augenärzte oder Kieferorthopäden beispielsweise, die gegenwärtige Verunsicherung der Patienten ausnutzen?

Ich weiß, wie gut viele Ärzte arbeiten. Ich habe mir auch abgewöhnt, zu verallgemeinern. Aber in dieser Situation habe ich erlebt, wie manches auf dem Rücken von Patienten ausgetragen wurde, das der Politik galt.

Dabei sind manche fein raus. Einer Studie zufolge sind etwa die Apotheker, die so gejammert haben, die großen Gewinner der Reform.

Das große Apothekensterben hat es sicher nicht gegeben. Nach den neuesten Zahlen führt die neue Arzneimittelpreisverordnung jetzt aber auch zu deutlichen Preissenkungen. Gerade bei Medikamenten, die in großem Stil verschrieben werden: Cholesterinsenker, Mittel gegen Bluthochdruck . . .

Heißt das, die Medikamente werden billiger?

Eine kleine Gruppe wird teurer. Es wird aber viele geben, die billiger werden. Und am Telefon weise ich die Leute auch auf den Versandhandel hin. Wer immer das gleiche Medikament braucht, benötigt nicht mehr den Rat des Apothekers. Ich höre aber auch, dass sich Arzneimittelhersteller wieder neue Nischen schaffen. Plötzlich heißt es, bestimmte Mittel haben so viele Nebenwirkungen, dass sie unbedingt verschreibungspflichtig werden müssten. Das ist ein Skandal. Jahrzehntelang wurden diese Mittel mit dem Argument verkauft, dass sie so nebenwirkungsarm seien.

Und Arznei ohne Nebenwirkungen müssen die Patienten künftig selber bezahlen. Teilen Sie die Befürchtung der Grünen, dass dies der Alternativmedizin den Garaus macht?

Ich bin mit den Grünen der Meinung, dass wir hier die Entwicklung sehr aufmerksam verfolgen müssen. Ende März soll die Liste verschreibungsfähiger Medikamente fertig sein. Da sollen auch Mittel anderer Therapierichtungen mit rein. Ich weiß, dass im gemeinsamen Bundesausschuss, der darüber entscheidet, auch Vertreter dieser Richtung sitzen. Und neuerdings ja auch Patientenvertreter.

Die kein Stimmrecht haben.

Aber sie haben Gelegenheit zur Stellungnahme, und auch das ist schon ein ganz wichtiger qualitativer Fortschritt.

Die Selbstverwaltung ist doch zu einem gut Teil verantwortlich für die Krise. Hätte man sie nicht viel stärker entmachten müssen?

Lesen Sie unseren ursprünglichen Gesetzentwurf! Da hatten wir das mit drin. Ich hätte gerne mehr Wettbewerb eingefordert. Etwa, dass die Krankenkassen auch die Möglichkeit haben, mit Ärzten Einzelverträge zu machen. Da gab´ s ja immer die Angst vor Dumpingpreisen. Aber es hätte auch das Gegenteil passieren können: Dass die, die wirklich gut arbeiten, patientenorientiert und qualitätsausgerichtet, mal eine Belohnung bekommen. Im jetzigen System ist es für diese Ärzte ganz schwer, sich zu behaupten. Aber in den Konsensverhandlungen hat die Union lauter Schutzzäune gebaut. Nur kein Wettbewerb, nur keine Entmachtung der Kassenärztlichen Vereinigungen.

Gerade hat Ihnen der Bundesausschuss wieder seine Macht demonstriert. Der Gesetzgeber beschließt zur Qualitätssicherung in Krankenhäusern Mindestmengen für bestimmte Operationen. Die Selbstverwaltung lässt das jahrelang liegen und wendet es dann nur auf Eingriffe mit Seltenheitswert an . . .

Das habe ich kritisiert. Ich habe immer gekämpft für ein Mindestmengenkonzept bei Operationen. In Nordrhein-Westfalen werden zwei Drittel der Brustkrebspatientinnen in Krankenhäusern operiert, die das in anderen europäischen Staaten wegen ihrer geringen Erfahrung gar nicht dürften. Wir brauchen hier mehr Spezialisierung. Provinzialismus können wir uns nicht mehr erlauben.

Aber die Selbstverwaltung zeigt der Politik eine lange Nase . . .

Ich hätte mir hier ein deutlicheres Signal gewünscht. In dem Mindestzahlkonzept hätten auch große Volkskrankheiten drin sein müssen. Brustkrebs etwa, Prostatakrebs, Bypass-Operationen.

Können sich Parlament und Ministerin solche Renitenz bieten lassen?

Wir haben der Selbstverwaltung ja schon Vorgaben gemacht, wie es sie bei unseren Vorgängern nie gegeben hat. Bei den Disease-Management-Programmen sind wir kritisiert worden, weil wir uns einmischen. Ärztliche Leitlinien wurden als Kochbuch-Medizin geschmäht. Aber das alles ist nicht aufzuhalten. Die Patienten werden das mit uns einfordern.

Geplant ist ja auch ein Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit. Wer wird dort Chef?

Das wüsste ich selber gerne, es könnte auch gern eine Chefin werden. Frauen sind im Medizinbetrieb ja völlig unterrepräsentiert. Der Bundesausschuss war bis vor kurzem zu hundert Prozent männlich besetzt. Nun sind zwei Frauen drin. Das ist schon eine Revolution.

Die Patientenbeauftragte immerhin ist weiblich. Und die Ministerin.

Aber schauen Sie sich mal die Karriereleitern im Medizinbetrieb an. Die Hälfte der Medizinstudenten ist weiblich. Bei der Promotion sind es noch 30 Prozent, bei den Professoren knapp über zwei Prozent. In Deutschland gibt es eine einzige Frau auf einem gynäkologischen Lehrstuhl, das muss man sich mal vorstellen. Ist doch klar, dass geschlechtsspezifische Aspekte der Versorgung kein Thema sind. Warum sterben mehr Frauen beim ersten Herzinfarkt als Männer? Und es gibt auch Qualitätsunterschiede in der Behandlung.

Haben Sie sich eigentlich schon mal mit Ulla Schmidt angelegt?

Nein.

Gehört das nicht auch zu Ihrem Job?

Ich will es nicht ausschließen. Aber Ulla Schmidt ist jemand, die Anregungen aufgreift. Sie hat auch die Qualitätsoffensive mitangeschoben. Und sie hat eine Bereitschaft, auf Herausforderungen zuzugehen, wie ich es mir von vielen anderen in der Politik wünschen würde.

Wie verträgt sich das denn: Anwältin der Patienten zu sein und gleichzeitig die Reform der Regierung rechtfertigen zu müssen?

Ich habe keine Identitätskrise, wenn Sie das meinen. Ich kann die Reform ja erklären: Wir mussten das System kurzfristig stabilisieren. Längerfristige Dinge wie Fortbildungspflicht, Qualitätssicherung oder Prävention kosten, auch wenn derzeit viel zu viel Geld in Nichtqualität fließt. Erst einmal mussten wir es so machen, wie wir es gemacht haben.

Und längerfristig? Die SPD hat auf ihrem letzten Parteitag die Bürgerversicherung gefordert. Wäre das für die Patienten ein Gewinn?

Absolut. Ich unterstütze diese Forderung. So können wir das System langfristig finanziell stabilisieren. Außerdem finde ich es gerechter, wenn alle in dasselbe System einzahlen.

Keine zwei Klassen mehr im Wartezimmer?

Genau. Auch in der Qualität der Versorgung gibt es Unterschiede zwischen gesetzlich Versicherten und Privatpatienten. Der Arzt in der Praxis fragt immer zuerst, wie jemand versichert ist. Und von mir wollten Anrufer wissen, ob ich auch für Privatpatienten zuständig bin. Dann sage ich: Ich bin doch kein Arzt, ich mache diesen Unterschied nicht. Aber der steckt fest in den Köpfen drin.

Könnte sich die SPD mit der Bürgerversicherung wieder einen sozialeren Anstrich geben?

Das kann ich mir schon vorstellen. Aber die Einführung der Bürgerversicherung wird nicht einfach. Sie fordert von allen etwas. Schließlich werden bis zu einer Bemessungsgrenze auch andere Einkommen einbezogen, Da wird es Widerstände geben. Ich halte die Bürgerversicherung trotzdem für gerecht und zukunftsfähig. Nehmen wir mal das CDU-Konzept: Die Kopfpauschale führt dazu, dass wir Einkommensschwache in hohem Maße durch den Staat finanzieren müssen. Das macht Gesundheitspolitik abhängig von der Kassenlage. Das halte ich für unerträglich.

Kommt die Bürgerversicherung noch in dieser Legislaturperiode?

Das steht und fällt auch mit dem Erfolg der jetzigen Reform. Wenn wir die gesetzliche Versicherung finanziell stabilisieren, lässt sich der Termin noch rausschieben. Gelingt das nicht, stellt sich die Frage einer nachhaltigen Finanzierung viel schneller. Dann stehen wir vor der Systementscheidung. Und da schlage ich mich ganz eindeutig auf die Seite der Bürgerversicherung.

Was macht denn die Patientenbeauftragte, wenn die Gesundheitsreform durch ist? Brauchen wir Sie dann noch?

Ich habe noch eine Menge zu tun. Wir müssen das Beratungswesen verbessern, insgesamt mehr Transparenz schaffen. Außerdem bin ich aufgefordert, Stellungnahmen zu Gesetzen anderer Ministerien abzugeben. Ich werde Sprechstunden überall in der Bundesrepublik abhalten, nicht nur um Einzelnen zu helfen, sondern auch um mitzubekommen, was in der Fläche passiert. Vorläufig geht mir die Arbeit nicht aus. Wenn sich aber eines Tages die Patientenbeauftragte wirklich mal erübrigen wird, ist es auch gut. Dann haben wir etwas erreicht.

Das Gespräch führten Cordula Eubel und Rainer Woratschka. Die Fotos machte Mike Wolff.

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