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Politik: ZDF-Politbarometer: Die Zahlen lügen nicht (Leitartikel)

Helmut Kohl hatte seine überheblichsten Auftritte immer dann, wenn er Journalisten belehrte, dass er Wahlen und nicht Wahlumfragen gewinne. Das wirkte, bis der gewesene Kanzler beides verloren hatte.

Helmut Kohl hatte seine überheblichsten Auftritte immer dann, wenn er Journalisten belehrte, dass er Wahlen und nicht Wahlumfragen gewinne. Das wirkte, bis der gewesene Kanzler beides verloren hatte. Kohl wusste natürlich, dass Wählerbefragungen in der Demokratie unverzichtbare Stimmungsmesser sind. Zwar richten sich nur machthungrige Populisten nach der Demoskopie - aber alle klugen Politiker hören auf sie. Sie wissen, dass man aus ihren Ergebnissen lernen kann. Zum Beispiel, wie man politische Inhalte vermittelt. Oder auch, welche Verhaltensmuster beim Wähler auf Sympathie, welche auf Ablehnung stoßen. Und man kann an kontinuierlich durchgeführten Umfragen ablesen, wie eine sich ändernde Politik auch zu anderen Wählerreaktionen führt. Das Politbarometer für den Juli zeigt geradezu exemplarisch den Aufstieg und Fall politischer Kräfte. Seine Ergebnisse kommen einer politischen Wetterwende gleich.

Die Regierungskoalition, vor allem deren größerer Partner SPD, hat der wichtigsten Oppositionspartei, der CDU, auf nahezu allen Kompetenzgebieten die Meinungsführerschaft abgenommen. Ob es um Steuern, Renten oder die wirtschaftliche Entwicklung geht: Überall traut der Wähler den Sozialdemokraten eher als den Christdemokraten zu, den richtigen Weg einzuschlagen. Den entscheidenden Meinungsumschwung hat der Koalition offensichtlich ihr Triumph im Bundesrat bei der Abstimmung über die Steuerreform gebracht. Die Wähler registrieren ganz genau, ob Parteien zerstritten oder einig sind, ob sie glaubwürdig hinter ihrem eigenen Führungspersonal stehen oder dagegen intrigieren. So glänzend hier die Zahlen für Schröder und die SPD sind, so deprimierend müssen die Christdemokraten empfinden, wie schonungslos die Bürger den parteiinternen Streit abstrafen. Der Kanzler in der Mitte der Legislaturperiode ganz oben in der Beliebtheitsskala! Eine Regierungspartei SPD, der ein politischer Stimmungsumschwung innerhalb eines Monats einen Vertrauenszuwachs von fast einem Drittel brachte - wann hat es das schon gegeben?

Nun könnte man gegen diese Wertung einwenden, sie sei ein Ausweis momentanen Überschwangs, so haltbar wie Eis in der Julisonne. Aber da gibt es zwei Tendenzen des Politbarometers, die von großer Dauerhaftigkeit scheinen und deshalb sogar wahlentscheidend sein können. Das Eine: Die wirtschaftliche Lage in Deutschland wird im Juli so gut beurteilt wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Und zweitens: 64 Prozent der Bürger erwarten von einer guten Opposition, dass sie die Regierung wirksam unterstützt.

Beides hat einen gemeinsamen Kern. Die Deutschen sind kein Volk von Revolutionären. Die friedlich gelungene Wiedervereinigung ist die alles überstrahlende Ausnahme. Sie leben gerne in wirtschaftlicher Sicherheit, und sie fühlen sich besonders wohl in einer Konsensgesellschaft. Quer durch alle parteilichen Orientierungen ist ihnen Streit in der Politik verhasst. Ob das nun Teil des Nationalcharakters ist oder eine in die politischen Gene eingegangene Lehre aus zwei verlorenen Weltkriegen, zwei untergegangenen Diktaturen und drei großen ökonomischen Krisen, ist zweitrangig. Wer auch immer Politik gestaltet in Deutschland, wird an diesen Vorgaben gemessen. Das half lange der CDU. Sie ist zurückgefallen. Nun hat die SPD sie nicht nur ein-, sondern weit überholt. Die wirtschaftliche Kompetenz kann ihr die Union bis zum Jahr 2002 kaum mehr streitig machen. Bestenfalls auf dem Feld der Streitkultur kann sie noch lernen. Wenn sie kann.

Gerd Appenzeller

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