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Politik: Zehn Jahre Deutsche Einheit: Eine allzu herzliche Umarmung

Angesichts des zehnten Jahrestages der Wiedervereinigung unseres Landes halte ich es für angezeigt, weder zu jubeln noch zu jammern. Es gilt vielmehr einige Missverständnisse aufzuklären, die zwischen Ost und West bestehen, und einige Aufgaben zu nennen, die wir gemeinsam lösen müssen.

Angesichts des zehnten Jahrestages der Wiedervereinigung unseres Landes halte ich es für angezeigt, weder zu jubeln noch zu jammern. Es gilt vielmehr einige Missverständnisse aufzuklären, die zwischen Ost und West bestehen, und einige Aufgaben zu nennen, die wir gemeinsam lösen müssen.

Ein erstes Missverständnis, das allerdings sehr tröstlich scheint und daher auch offiziell verbreitet wird, besteht in der Annahme, die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern sei auf einem guten Weg. Richtig ist jedoch, dass die Entwicklung seit 1996/97 in wesentlichen Bereichen stagniert und der Abstand zu den alten Bundesländern wieder zunimmt.

Auch die hohen Wachstumsraten speziell in der Industrie und im Export ändern daran im Grunde nichts, weil die Investitionen in diesem Bereich ebenfalls seit 1997 wieder zurückgehen. Wir stehen deshalb vor der Frage, ob wir das Ziel einer Angleichung der Lebensverhältnisse ehrlicherweise aufgeben sollten oder ob wir einen neuen Anlauf nehmen wollen.

Befasst man sich mit den Ursachen der Stagnation, so kommt es schnell zu einem zweiten Missverständnis: Die Ostdeutschen scheinen mit den enormen Hilfen, die ihnen seit der Vereinigung zuteil wurden, nichts Rechtes anfangen zu können, was mit ihrer Mentalität zusammenhängen muss. Wie sollen sie damit aber "etwas anfangen", wenn mit den Transferleistungen zum größten Teil eine Nachfrage finanziert wird, die von der westdeutschen Wirtschaft gedeckt wird? Die Hilfen sorgen also in großem Umfang gar nicht in Ostdeutschland, sondern in Westdeutschland für zusätzliches Wachstum, zusätzliche Gewinne und Arbeitsplätze. Und da die Unternehmen in den alten Bundesländern sich auf diesen festen Absatzmarkt eingestellt haben und die Ost-deutschen umgekehrt darauf eingestellt sind, in dieser Weise gleichsam versorgt zu werden, können die Hilfen gar nicht zu einer eigenständigen Entwicklung führen.

Das ist der Teufelskreis, in dem wir uns beide bewegen. Gehen wir noch einen Schritt weiter und fragen, weshalb die Transferleistungen überhaupt nötig geworden sind, so müssen wir unweigerlich auf die Katastrophe vor und nach der Wiedervereinigung zurückkommen, als zwei Drittel der ostdeutschen Industrie zusammenbrachen und der Rest privatisiert wurde.

Das Missverständnis, das hier herrscht, lautet, der Zusammenbruch sei eine Folge der Planwirtschaft gewesen und zur schnellen Währungsunion und Privatisierung habe es daher keine Alternative gegeben. Der Zusammenbruch ist jedoch zweifellos auch eine Konsequenz dieser beiden politischen Maßnahmen gewesen, denn mit der Währungsunion verloren die Ostdeutschen den Großteil ihrer Exportmärkte und mit der Privatisierung den Großteil ihres Produktivvermögens an westdeutsche Unternehmen.

Und zu diesen Maßnahmen gab es sehr wohl Alternativen: vor einer Währungsunion zunächst für Wettbewerbsfähigkeit sorgen, und vor der Privatisierung die Unternehmen sanieren, die sanierungsfähig sind. Beides hätte wirkliche Hilfe, nämlich zur Selbsthilfe bedeutet. Die Totalhilfe, für die sich die damalige politische Führung entschied, konnte aber nur totale Abhängigkeit bewirken. Es war eine der bekannten allzu herzlichen Umarmungen, bei denen dem anderen die Luft ausgeht.

Die Erinnerung an die Entscheidungen von 1990 ist deshalb nicht "Schnee von gestern". Denn sie macht klar, dass das Dilemma von heute letztlich in der weitgehenden Ausschaltung der Ostdeutschen aus der Wahrnehmung ihrer eigenen Angelegenheiten begründet ist. Außerdem stellt sich im Rückblick erneut die Frage nach Alternativen.

Nun hat die SPD allerdings damals Alternativen benannt und vertreten. Die Hoffnung, die die Ostdeutschen 1998 auf die neue Regierung gesetzt hatten, war deshalb, dass sie auch eine andere Politik in Bezug auf Ostdeutschland machen würde. Der Eindruck, den viele nach zwei Jahren gewonnen haben, ist jedoch, dass die SPD eher resigniert. Denn bis auf das Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit und das Förderprogramm "InnoRegio" ist für die neuen Bundesländer nicht viel Neues getan worden. Wenn das so weitergeht, dann wird sich das Gefühl weiter ausbreiten, das viele Ostdeutsche schon jetzt haben: sie seien im Grunde abgeschrieben.

Und nun? Damit sich die Lage nicht weiter zuspitzt, sollte die Wirtschaftspolitik gegenüber den neuen Bundesländern öffentlich und ehrlich diskutiert werden. Wenn bei diesem Thema nicht mehr beschönigend geredet oder verlegen geschwiegen wird, dann werden sich auch kreative Lösungen finden.

Um die Diskussion anzustoßen, nur einige Stichworte: Muss angesichts der mehrjährigen Stagnation das Ziel der Angleichung nun aufgegeben werden? Da der bisherigen Entwicklung eigentlich keinerlei wirtschaftspolitische Strategie zu Grunde lag, wäre es an der Zeit, eine solche zu entwickeln und zwar mit dem Leitbild der eigenständigen Partnerschaft und Ergänzung zur westdeutschen Wirtschaft. Auch wenn die finanziellen Hilfen für Ostdeutschland zu einem großen Teil gar nicht seine Entwicklung fördern, sondern die westdeutsche Wirtschaft, sie können nicht einfach abgebaut werden. Sie können aber in größerem Umfang umgewandelt werden in Investitionsanreize und damit durch Investitionen ersetzt werden.

Für eine zweite Investitionsoffensive Ost muss öffentlich Druck gemacht werden. Da Währungsunion und Treuhandprivatisierung den Ostdeutschen die Exportmärkte und das Produktivvermögen weitgehend entzogen haben, muss sich eine alternative Förderpolitik darauf konzentrieren. Das heißt, die Vermögenssituation zu verbessern und den Marktzugang zu erleichtern.

Edelbert Richter

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