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Politik: Zu alt, zu jung

Von Moritz Schuller

Die Zahl ist magisch: Im vergangenen Jahr sind in Deutschland erstmals weniger als 700 000 Kinder geboren worden. Nüchterne Rechner können diese Zahl leicht erklären; sie ist die zwingende Folge der sinkenden Kinderzahlen seit 1965, als der Pillenknick den Babyboom der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte beendete. Der Rückgang muss deshalb aber auch alarmieren. Denn er belegt, wie schwer demografische Entwicklungen zu ändern sind.

Wenn man Kinderlose befragt, was aus ihrer Sicht gegen Kinder spricht, liefern sie vor allem zwei Antworten. Die eine: „Ein Kind wäre ein große finanzielle Belastung.“ Das stimmt, und deshalb gibt es: Kindergeld, Erziehungsgeld, Elterngeld, Mutterschutz, Erziehungsurlaub, steuerliche Freibeträge und vieles mehr. Die Gesamtsumme der staatlichen Förderungen liegt vermutlich bei weit über 100 Milliarden Euro. Die Linken stecken lieber Geld in Infrastruktur, die Rechten geben es lieber direkt den Eltern. Für die einen liegt in der Verteilungsgerechtigkeit der Schlüssel zum Erfolg, für andere, die Wertkonservativen, in der Familie.

Vieles ist versucht worden, und noch mehr sollte ausprobiert werden. Bei einem Vater, der das Kindergeld versäuft, ist eine Ganztagsschule hilfreich, wo Kinder etwas zu essen bekommen; bei Paaren, die arbeiten, stellt das von der großen Koalition geplante einkommensabhängige Elterngeld einen Anreiz dar; für die Alleinerziehenden sind womöglich lange Kita-Öffnungszeiten entscheidend.

Die beiden einfachen Grundsätze sind klar, und leider noch immer nicht ausreichend verwirklicht: Wer Kinder hat, darf nicht schlechter gestellt sein, als er es ohne Kinder wäre. Dass Kinder heute ein Armutsrisiko darstellen, ist ein lösbarer Skandal. Und: Wer Arbeit und Kinder vereinbaren möchte, sollte dazu in die Lage versetzt werden. Vielleicht schafft der sich gerade verändernde Arbeitsmarkt wenigstens flexiblere Formen für die Verbindung von Familie und Beruf.

Illusionen braucht man aber angesichts der dramatischen Geburtenentwicklung nicht zu haben: Gebracht haben die staatlichen Maßnahmen bisher nicht viel. Die Geburtenrate sinkt weiter, vermutlich auch in diesem Jahr. Vielleicht wäre sie ohne diese Anstrengungen noch niedriger, vielleicht stößt der Staat mit seinen Mitteln aber auch an die Grenzen dessen, was er beeinflussen kann. Denn die zweite, gleich häufige Antwort der Kinderlosen lautet: „Ich fühle mich noch zu jung dafür.“

Es liegt ein absurder Widerspruch darin, dass eine überalternde Gesellschaft sich zu jung fühlt, um Kinder zu kriegen. Doch das diffuse Gefühl, das dahinter steckt – Verunsicherung, Angst, Egoismus – ist mit Geld allein nicht aus der Welt zu schaffen. Und wenn die Politik es nicht einmal schafft, die Menschen zum Geldausgeben zu bewegen, wie sollte sie sie dann davon überzeugen, in neue Leben zu investieren? Wer denkt beim Kinderzeugen schon an die Rente?

Es gibt gute Argumente für Kinder, es gibt aber ebenso rationale Argumente gegen sie: Kinder bedeuten Verzicht und Fremdbestimmung. Ein Leben ohne Kinder mag egoistisch sein, aus volkswirtschaftlicher Sicht auch verantwortungslos, es ist aber nicht irrational. Deutschland optiert, ganz bewusst, für die Kinderlosigkeit.

Das ist Ausdruck einer Krise, die nicht ausschließlich mit Mitteln der Familienpolitik zu lösen ist. Denn so sehr sich die Geburtenzahlen in Westeuropa grundsätzlich gleichen, hierzulande sind sie noch niedriger. Kinder zu kriegen, einfach so, ist uns fremd geworden; darauf folgt, dass uns Kinder fremd werden. Die Debatte darüber, warum das so ist, hat wenig mit Elterngeld und Steuerfreibeträgen zu tun, sondern mit der Mentalität und Lebenslust und den fehlenden Erwartungen eines Landes an die eigene Zukunft.

„Wir befinden uns im Übergang zu einer anderen Ordnung“, sagt Kurt Biedenkopf, der als einer der Ersten das demografische Problem erkannt hat. Wie diese andere Ordnung aussieht, wird dadurch bestimmt werden, ob wir die demografische Entwicklung verändern können – mehr noch, ob wir sie überhaupt verändern wollen.

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