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Kurz und wichtig. Der Wahlakt ist ein besonderes Recht.

© dpa

Zur Bundestagswahl: Wahlpflicht wäre die Vollendung der Demokratie

Das Parlament bildet nicht repräsentativ die Bevölkerung ab. Das kann eine Wahlpflicht ändern. Sogar ein Denkzettel an die Parteien wäre möglich. Ein Kommentar.

Über gut 17 Millionen Menschen in Deutschland wird vor dieser Bundestagswahl ziemlich wenig gesprochen: die Nichtwähler. Eine Gruppe, an der meine Alterskohorte der unter 30-Jährigen keinen kleinen Anteil hat. Knapp 40 Prozent der 9,8 Millionen jungen Wahlberechtigten machten bei der letzten Bundestagswahl nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Kein Wunder, steht die Mobilisierung der Nichtwähler bei den wenigsten Parteien hoch im Kurs.

Die Ausnahme bildet die AfD, die sich sozusagen als Partei der Frustrierten und sogenannten Politikfernen etabliert hat. Zahlen aus jüngeren Landtagswahlen zeigen, dass bis zu einem Drittel der AfD-Wähler bis vor Kurzem Nichtwähler waren.

Hier offenbart sich allerdings eine gefährliche Lücke unserer Wahlkultur. Denn obwohl die AfD auch Protestwähler mobilisiert, aktiviert sie überproportional Nichtwähler, während etablierte Parteien daran scheitern. Das Resultat: ein demokratisches Defizit, das die Sympathien für den rechten Rand überbewertet darstellt. Dieser Umstand weist auf ein noch drängenderes demokratietheoretisches Problem hin: Wie legitim sind Wahlergebnisse, wenn die Gruppe der Nichtwähler größer ist als selbst die Unterstützer der stärksten Partei?

Belgien und Australien zeigen, wie es geht

Junge, Arme und schlechter Ausgebildete gehen deutlich seltener wählen als ältere, reichere und besser gebildete Wähler. Entsprechend sieht die Zusammensetzung der Parlamente aus. Eine einfache Möglichkeit, dieser schiefen Repräsentation entgegenzuwirken, liegt in der Einführung einer Wahlpflicht. In Deutschland wird dieses Instrument derzeit von rund zwei Dritteln abgelehnt.

Dennoch lohnt sich gerade im Jahr 2017 ein frischer Blick auf die Idee. Länder wie Australien und Belgien weisen seit Jahrzehnten mithilfe einer Wahlpflicht eine Beteiligung von mehr als 90 Prozent auf. In beiden Ländern werden Geldstrafen fällig, wenn nicht gewählt wird. Doch über die Steigerung der Wahlbeteiligung hinaus hätte eine Wahlpflicht eine ganze Reihe von Vorteilen: Durch sie erhielte ein Land ein repräsentativeres Ergebnis, weil alle sozialen und Altersgruppen in entsprechender Weise vertreten wären und es somit erst wirklich demokratisch legitimiert wäre.

Eine Wahlpflicht hätte auch direkte Auswirkungen auf den Wahlkampf. Da sich Parteien nun allen Wählern stellen müssten, reichten klientelbezogene Kampagnen nicht mehr aus. Politiker müssten sozial schwächere und anderweitig unterrepräsentierte Gruppen stärker beachten und auf sie eingehen.

Eingriff in die Rechte? Da gibt es ganz andere Einschränkungen

Die Beteiligung aller Bürger an der Wahl könnte ein effektives Korrektiv gegen die einseitige Bevorzugung einzelner Wählergruppen sein. Und eine politisch gewollte Demobilisierung der Wähler, wie sie kürzlich Martin Schulz Angela Merkel vorgeworfen und Donald Trump in den USA erschreckend effektiv vorgeführt hat, wäre ebenso unmöglich. Auch eine Debatte wie die, ob Kanzleramtschef Peter Altmaier potenzielle AfD-Wähler zum Nichtwählen aufgefordert hat, gäbe es nicht.

Das größte Argument der Wahlpflichtgegner lautet: Das Wahlrecht beinhalte auch das Recht, nicht zu wählen. Eine Wahlpflicht sei ein zu tiefer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen. Tatsächlich greift der Staat schwerwiegend in das Leben seiner Bürger ein: Schulpflicht, Steuerpflicht, Meldepflicht, bis vor Kurzem die Wehrpflicht waren und sind deutlich tiefere Eingriffe als die Auflage, alle vier Jahre ein Kreuz machen zu müssen – ein Kreuz, das so wichtig ist für eine funktionierende Demokratie. Dennoch bleibt das Argument legitim, niemand könne gezwungen werden, eine Partei zu wählen. Hier kann Abhilfe geschaffen werden: mit einem Enthaltungsfeld auf dem Wahlzettel. Politisch überzeugte Nichtwähler könnten hier ihre Ablehnung aller Parteien kundtun und den Stimmzettel bei Bedarf zum Denkzettel machen. Auch das wäre zutiefst demokratisch.

Vincent-Immanuel Herr (28) ist Autor, Aktivist und Teil von "Herr und Speer". Im Juni erschien sein Buch „Wer, Wenn Nicht Wir?“ im Verlag Droemer-Knaur.

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Vincent-Immanuel Herr

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