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Kolumne: So läuft es: 100 Meter mit Großmutter

Laufen zu können, ist ein Geschenk - und niemals eine Selbstverständlichkeit. Das sollten wir nicht vergessen, findet unser Kolumnist.

Das Jahr ist noch jung, und schon jetzt ist der gute Vorsatz, sich mehr zu bewegen, endlich regelmäßig zu laufen, bei vielen wieder vergessen. Es ist zu kalt, es ist zu nass, der Muskelkater, und irgendwie keine Motivation. Oder einfach keine Zeit, auch eine Ausrede, die sehr gerne genommen wird. So ist das mit Vorsätzen, ich finde, sie sind zu nichts zu gebrauchen. Richtig gut wird es erst dann, wenn Vorsätze natürlicher Alltag werden. Wenn sie ganz normal zu unserem Leben gehören. Das macht diese Vorsätze erst so wertvoll. Überhaupt laufen zu dürfen, laufen zu können, das ist ein Geschenk. Auch mir passiert es, dass ich das vergesse.

Ich habe das Glück, noch eine Großmutter zu haben. Und ich bin dankbar dafür. Jeden Tag. Vor ein paar Tagen hatte Oma Geburtstag. Sie geht stark auf die 90 zu. Die Ohren wollen nicht mehr so ganz. Dass sie nicht mehr gut hört, nervt sie selbst. „Warte, ich mache das Hörgerät raus, dann höre ich dich besser“, sagt sie oft. Großmutter ist im Spätherbst angekommen. Sie hat keine Krankheiten, sie ist, wie sie immer war. Und sie gibt uns als Familie die Möglichkeit, langsam und behutsam Lebewohl zu sagen. Auf der einen Seite ist das unfassbar traurig, auf der anderen Seite kommt es auf den letzten gemeinsamen Metern immer wieder zu sehr berührenden Momenten, die mich verändern. Die mich demütig werden lassen.

Diese Trauer, diese Verzweiflung erreichte mein Herz

Es sind nicht nur die Ohren, die nicht mehr so wollen, es sind auch die Beine. Von Jahr zu Jahr mehr strengt es Großmutter unendlich an, auch nur wenige Meter zu gehen. Wir haben Oma zum Mittagessen eingeladen, an ihrem Geburtstag. Vater hatte das Auto nur 100 Meter entfernt vom Restaurant geparkt. „Soll ich das Auto holen?“, fragte er mich. „Lass uns versuchen zu laufen. Vielleicht tut es ihr gut“, entgegnete ich. Vater links, ich rechts, Großmutter in der Mitte. 100 Meter, leicht den Berg hinauf.

Wir benötigten beinahe zehn Minuten. Immer und immer wieder mussten wir Pausen einlegen. Es waren sechs. Immer wieder schüttelte Oma den Kopf, vor Verzweiflung. Sie konnte selbst nicht glauben, dass sie derart in Atemnot geriet. Nach 20 Metern. Wir erreichten das Auto, gerade so. Großmutter rang laut nach Luft. So wie ich auf der Zielgeraden eines Marathons.

Zu Hause angekommen, hüllte sie sich in die neue Decke, die ich ihr geschenkt hatte. Und schloss die Augen. Sie wirkte auf der einen Seite sehr stolz, auf der anderen war sie völlig entkräftet. Ich werde ihre Verzweiflung niemals vergessen können. Sie war immer viel gelaufen, immer. Und sie war gerne gelaufen. Durch die Wälder auf der hessischen Seite des Westerwaldes. Und nun spürte sie die Trauer und die Verzweiflung, all dies eben nicht mehr tun zu können. Und diese Trauer, diese Verzweiflung erreichte mein Herz. Vergessen wir bei all unseren Ausreden nicht: Laufen zu können ist ein Geschenk und niemals eine Selbstverständlichkeit. So läuft es.

- Mike Kleiß leitet eine Kommunikations- und Markenagentur in Köln und schreibt hier an jedem Donnerstag übers Laufen.

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