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Sport: 100 Meter Unterschied

Christophe Lemaitre und Dwain Chambers treffen heute im Sprint aufeinander

Kurz hinter dem Ziel griff sich Christophe Lemaitre an den Oberschenkel, für eine halbe Sekunde nur. Aber für Tausende französische Leichtathletik-Fans am Bildschirm vermutlich lange genug, um ihnen einen kleinen Schreck einzujagen. Hoffentlich keine Verletzung, nicht jetzt, nicht im 100-Meter-Vorlauf der Europameisterschaften in Barcelona.

Entwarnung, Lemaitre richtete sich wieder auf und grüßte kurz ins Publikum. Alles in Ordnung, Vorlauf in 10,19 Sekunden gewonnen, keine Verletzung. Der 20-Jährige steht bei der Europameisterschaft unter erhöhter Beobachtung. So ist das, wenn man der erste weiße Sprinter ist, der unter 10,00 Sekunden gerannt ist. Anfang Juli war das, in Valence. Lemaitre kam in 9,98 Sekunden ins Ziel, seither ist er einer der neuen Stars der französischen Leichtathletik.

Seitdem hat sich auch eine Frage erledigt, und Lemaitre ist froh darüber. „Sind Sie der erste Weiße, der unter 10,00 Sekunden läuft?“, hatten ihn Reporter seit einem Jahr gefragt. Er war 2009, noch keine 20 Jahre alt, schon 10,04 Sekunden gelaufen. Damit weckte er Phantasien und Sehnsüchte. Irgendwann mal sollte ein weißer Läufer die 10,00 Sekunden-Barriere überwinden, es war einer dieser Punkte, die Medien und Fans noch elektrisieren konnten. Doch Lemaitre konnte mit diesem Hype wenig anfangen. „Ich habe die Dimension der Hautfrage immer abgelehnt.“

Das spannendere Thema verbirgt sich in einem anderen Satz von ihm. „Nicht ich bin Favorit“, sagte Lemaitre, „Dwain Chambers ist es.“

Chambers, der Brite, der Hallen-Weltmeister. Seine Bestzeit im Jahr 2010 liegt bei 9,99 Sekunden. Auf der Bahn ist es das Duell zweier sehr starker Sprinter. In der Gesamtwahrnehmung von Fans und Medien ist es der Kampf Gut gegen Böse, unverbrauchter Senkrechtstarter gegen den Dopingbetrüger. Am Dienstagabend verlief dieses Duell noch undramatisch. Chambers lief in seinem Vorlauf locker 10,21 Sekunden. Im heutigen Finale dürfte die Hoffnung vieler Fans mitsprinten, der Richtige möge gewinnen.

Eigentlich aber werden beide im Duell Gut gegen Böse etwas überhöht. Lemaitre, das ist der scheue, schlaksige Aufsteiger, der einfach sein Riesentalent konsequent nützt. Er spielte Fußball und Handball, als man im Park seines Dorfs in der Nähe von Aix-les-Bains einen Jedermann-Wettbewerb für Leichtathletik organisierte. Er machte mit, ein Spaß eigentlich, aber er rannte über 50 Meter die schnellste Zeit, die je ein 15-Jähriger in der ganzen Gegend erreicht hatte. Der Klub in Aix-les-Bains holte ihn, dort traf er auf seinen Coach Pierre Carraz, und der erzählte: „Nach 15 Tagen rannte er 11,80 Sekunden über 100 Meter, nach einem Monat 11,40.“

Genug Stoff also für eine Inszenierung, aber Lemaitre lässt das nur ungern mit sich machen. Er hat seine Computer, besucht oft seine Eltern und kümmert sich ansonsten um sein Studium der Elektrotechnik.

Da muss Chambers wie ein Gegenentwurf wirken. Verglichen mit Lemaitre arbeitet er sich mit seinen Muskelbergen über die Bahn, es sieht nicht leicht und flüssig aus. Der 32-Jährige gilt als einer dieser Athleten, die für den Erfolg alles machen, kühl kalkulierend, ziemlich skrupellos. Der Brite war tief in den Balco-Dopingskandal verstrickt, das hatte ihm eine zweijährige Sperre eingebracht. Und er verlor den Respekt, den ihm viele Fans und auch Sportler erwiesen hatten.

Er kämpft jetzt wieder um diesen Respekt, er lässt seinen Manager Briefe an Meeting-Direktoren schreiben. Chambers sei geläutert, er habe gebüßt, man möge ihn doch starten lassen. Es hat etwas Unwürdiges, diese Betteltouren. Wer sich so anbiedert, erzeugt im besten Fall noch Mitleid. Vor allem aber ist die Betteltour erfolglos. Ein Start beim Internationalen Stadionfest im August in Berlin? Abgelehnt.

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