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So schön wurde es nie wieder. Rot-Weiss vor dem Finale um die Deutsche Meisterschaft 1955 gegen Kaiserslautern (4:3). Foto: Imago/Krschak

© imago sportfotodienst

60 Jahre nach dem Gewinn der deutschen Meisterschaft: Rot-Weiss Essen: Ein Riese im Koma

Heute vor 60 Jahren wurde Rot-Weiss Essen Deutscher Meister, aktuell spielt der Klub in der Regionalliga. Trotz großer Tradition liegt das Potenzial brach.

An Essen kommt keiner vorbei. Auch nicht die beiden Schaffner im Zug Richtung Dortmund, die sich über die abgelaufene Bundesligasaison unterhalten: Schalke hat mal wieder auf höchstem Niveau versagt, der BVB hat sich ins Pokalfinale gerettet. Als der Zug in den Essener Hauptbahnhof einfährt, fragt der eine: „Was ist eigentlich mit Rot-Weiss?“ Draußen ragen Türme aus Stahl und Glas empor. Die Konzernzentralen von RWE, ThyssenKrupp und Evonik. Phallussymbole der deutschen Industrie, die sich hier dicht aneinanderdrängen. „Mit solchen Firmen im Rücken müsste der Verein die dritte Kraft im Revier sein“, fügt der Zugbegleiter hinzu. Doch der Klub, der am 26. Juni 1955 zum ersten und einzigen Mal Deutscher Meister wurde, ist nur noch viertklassig. Und weil sein Kollege das auch nicht verstehen kann, sagt der Schaffner nun jenen Satz, der früher oder später immer fällt, wenn es um Rot-Weiss geht: „Essen ist ein schlafender Riese.“ Sein Kollege stimmt schweigend zu.

Dabei hatte dieses Jubiläumsjahr so vielversprechend begonnen: Zum Auftakt reiste RWE als Tabellenführer zum Verfolger Alemannia Aachen. Ein Westklassiker zweier gefallener Traditionsvereine. 30 000 Zuschauer waren Anfang Februar gekommen – neuer Rekord für die Regionalliga. Doch bei RWE herrschte Unruhe: Im Winter wurde ein Spieler wegen Dopings gesperrt und dem Verein daraufhin ein Punkt abgezogen. In Aachen verlor Essen dann 0:1. Es war der Anfang vom Ende der Aufstiegshoffnungen. Danach fiel der Verein in der Tabelle zurück, schließlich mussten Sportdirektor und Trainer gehen. Mal wieder, so schien es, hatte Rot-Weiss Essen am Scheideweg zwischen Triumph und Tristesse zielsicher die falsche Richtung eingeschlagen. Oder wie der frühere Radiokommentator Manfred Breuckmann einmal sagte: „Stell’ dir vor, du bist RWE-Fan. Da kannst du jeden Tag nur noch saufen.“

„Der Riese schläft schon sehr lange“, sagt Michael Welling. Seit 2010 ist der Wirtschaftswissenschaftler erster Vorsitzender. Als Welling nach Essen kam, war RWE gerade insolvent und in die fünfte Liga abgestiegen – so tief wie nie zuvor. Welling half mit, den Klub schuldenfrei zu bekommen. Derzeit arbeitet er an einem Leitbild des Klubs. Bislang gibt es nur ein etwas schief formuliertes Vereinsmotto, das auf der Homepage prangt: „Schützenswertes Kulturgut seit 1907“ – Anspielungen auf Essens Status als Kulturmetropole und die Tradition des Klubs, der einst zur deutschen Fußballelite zählte.

Groß gemacht hat RWE vor allem ein Mann: Georg Melches – Vereinsgründer, Spieler, später Funktionär und vor allem Mäzen. Er nutzte seine Einfluss als Direktor eines Industrieunternehmens, um gute Spieler zu verpflichten. Unter seiner Führung holte RWE 1953 den erstmals ausgetragenen DFB-Pokal, zwei Jahre später die Meisterschaft und startete anschließend als erstes deutsches Team im Europapokal der Landesmeister. Im Jahr darauf wurde im Stadion an der Hafenstraße die erste Flutlichtanlage Deutschlands eingeweiht. Doch bald begann der langsame Niedergang. 1961, kurz vor Gründung der Bundesliga, stieg RWE ab, zwei Jahre später starb Melches. „Mit seinem Tod ging es bergab“, sagt Uwe Wick, Historiker, RWE-Fan und Vereinsarchivar. Er ist so etwas wie der Vergangenheitsbewältiger dieses Klubs, der wie kaum ein anderer in Deutschland von seiner Vergangenheit zehrt. „Eigentlich könnten wir die dritte Kraft im Revier sein“, sagt auch Wick, „wir haben es seit 1955 nur nicht mehr bewiesen.“ Nach zwei Bundesligaaufstiegen stieg RWE zuletzt 1977 aus der Ersten Liga ab – und kam bisher nicht wieder hoch.

Bei Rot-Weiss Essen zeigt sich, was passiert, wenn einem nichts anderes mehr bleibt als die eigene Vergangenheit. Doch Welling sieht darin den größten Trumpf: „Das ist das, was den Verein noch heute ausmacht“, sagt er. „Es gibt keinen anderen Traditionsverein, der knapp 40 Jahre von der Bildfläche verschwunden ist und dennoch im Schnitt 8000 Leute anzieht.“ Für Roland Sauskat vom Essener Fanprojekt ist die große Tradition des Vereins „eher eine Last, weil viele Leute hier immer noch glauben: ,In zwei, drei Jahren sind wir eh wieder oben.’“

Aber im Grunde könnte es noch schlimmer sein. So schlimm wie beim einst großen Stadtrivalen Schwarz-Weiß Essen, dem DFB-Pokalsieger von 1959, der vor dreistelliger Zuschauerkulisse ums Überleben in der fünften Liga kämpft. Beim Lackschuhklub genannten Verein aus dem vornehmen Süden der Stadt führten fehlender Zuschauerzuspruch und mangelnde Risikobereitschaft zum allmählichen Abstieg. Bei RWE, dem einstigen Arbeiterklub aus dem Norden, sorgten früher Misswirtschaft und der schlechte Ruf einer gewaltbereiten Fanszene für ein Schmuddelimage. „Es war auch die Schuld des Vereins“, sagt André Schubert. Er schreibt seit rund zwei Jahren in seinem Weblog „Catenaccio 07“ über RWE. Als es dem Klub noch halbwegs gut ging, sagt er, habe sich niemand um ortsansässige Sponsoren gekümmert. „Man war einfach zu stolz, um sich mit den Schnöseln aus der Essener Innenstadt abzugeben.“ Mittlerweile ziehen ansässige Konzerne wie Evonik lieber ins 40 Kilometer entfernte Dortmund weiter, wo der BVB internationale Aufmerksamkeit garantiert.

Am Ende hat es RWE doch noch geschafft, die Jubiläumssaison einigermaßen akzeptabel über die Bühne zu bringen: Die Essener gewannen den Niederrheinpokal gegen Rot-Weiß Oberhausen und zogen somit in die 1. Hauptrunde im DFB-Pokal ein. Gegner wird dort ein alter Westrivale sein: Fortuna Düsseldorf. Zumindest für einen Tag wird Essen dann wieder auf der großen Bühne spielen.

Die Nacht hat sich bereits über die Stadt gelegt, als am Essener Hauptbahnhof die letzten Fans nach einem Spiel in den Regionalzug Richtung Dortmund steigen. Schweigend mischen sie sich unter die restlichen Pendler. Nur einer durchbricht die Feierabendstille und ruft mit rauer Stimme in den Zug hinein: „Essen! No surrender!“

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