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Sport: Alleine stürmen

Fußball im Wandel: Doppelpässe sterben aus, Offensivstars sind rar. Ein analytischer Blick auf die WM

Berlin - Sicher wird irgendwann das Geheimnis gelüftet werden, was denn nun auf dem Zettel stand, den Jens Lehmann im Elfmeterschießen gegen Argentinien im Viertelfinale der Weltmeisterschaft aus seinem Stutzen gezogen hat. Angeblich waren dort die Eigenheiten aller Schützen der Argentinier notiert, die der Chefscout Urs Siegenthaler in den vergangenen vier Jahren analysiert hat. Doch Roberto Ayala und Esteban Cambiasso, deren Elfmeter Lehmann parierte, haben in den vergangenen vier Jahren in Pflichtspielen gar keine Elfmeter geschossen, mit der Ausnahme Cambiasso beim Confed-Cup 2005. Zumindest hat Roland Loy keine gefunden, und der Sportwissenschaftler schaut sehr genau hin, wenn es um Daten geht, die man zu einer wissenschaftlichen Analyse des Fußballs gebrauchen kann. Er war während der WM Fachberater des ZDF, Anfang August erscheint sein zweibändiges Werk „Taktik und Analyse im Fußball“.

Die Lieblingsecken von Ayala und Cambiasso konnten also auf Lehmanns Zettel gar nicht verzeichnet sein, zumal „selbst auf der Basis von fünf oder sechs beobachteten Strafstößen kaum eine sinnvolle Aussage über die Lieblingsecke eines Elfmeterschützen möglich ist“, sagt Loy. Falsch findet es Roland Loy deshalb, wenn Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff die „Werthaltigkeit der Scouting-Abteilung der Nationalmannschaft mit dem Elfmeter-Zettel zu legitimieren versucht“. Stattdessen sollte er lieber dem Sportpsychologen der Nationalmannschaft einen ausgeben.

Natürlich hat Loy auch während der WM fleißig Daten gesammelt. Auch wenn er sie noch nicht umfassend ausgewertet hat, lassen sich eine Woche nach dem Ende des Turniers anhand seiner Ergebnisse einige Tendenzen der Weltmeisterschaft erkennen. Das sind zum einen Dinge, die schon während des Turniers gut zu erkennen waren. Etwa, dass sich in ihren Vereinen sonst offensive Innenverteidiger wie der Brasilianer Lucio nur äußerst selten in das Spiel nach vorne eingeschaltet haben. Oder, dass viele Mannschaften mit nur einer „echten“ Spitze und einem zweiten, weiter zurückhängenden Angreifer gespielt haben – laut Loy nur die Fortsetzung der Tendenz, die schon in der Champions League zu beobachten war. Die Stars dieser WM waren defensive Spieler wie der Italiener Fabio Cannavaro oder der Franzose Patrick Vieira – weil kaum offensive Spieler in diese Rolle drängten. Auch dass nur ein Tor nach einem Doppelpass (beim 2:0 von Paraguay gegen Trinidad & Tobago) gefallen ist, sei kein Wunder, weil „die Teams im Schnitt nur noch zwei Doppelpässe pro Partie spielen“.

Zum anderen will der Datenexperte aber Beobachtungen, die offensichtlich erscheinen, nicht als gesicherte Erkenntnisse gelten lassen. So sei der hohe Anteil der Weitschusstore nicht zwangsläufig eine Folge des neuen Balles, wie oft behauptet wurde. Zwar war die Quote der Weitschusstore mit 25 Prozent zeitweise doppelt so hoch wie sonst üblich, aber so etwas habe es auch bei der WM 1994 mit einem anderen Ball gegeben. Die hohe Zahl 2006 sei wohl eher zufällig. Und die vielen späten Tore? Sind beim Vergleich mit mehreren tausend nationalen und internationalen Spielen ganz normal.

Roland Loy versucht mit seinen Analysen, seiner Meinung nach falsche Schlüsse im Fußballsport aufzuzeigen, solche unwissenschaftlichen Ableitungen würden teilweise auch Experten wie die der Technischen Studiengruppe des Weltverbandes Fifa machen. Das schnelle Spiel in die Spitze beispielsweise ist laut Loy gar nicht so erfolgreich, wie allgemein angenommen wird. „Angriffe über 1, 2, 3 Stationen enden nur in 1 Prozent der Fälle mit einem Treffer, Angriffe über 13, 14 und 15 Stationen dagegen immerhin in 7 Prozent“, sagt Loy. Deshalb sei auch die Spielphilosophie der Nationalelf kritisch zu betrachten. „Alle Gratulation der deutschen Mannschaft für ihr tolles Spiel“, sagt Loy. „Aber die Mannschaft hat seit 18 Spielen gegen keine große Mannschaft in der normalen Spielzeit gewonnen. Jetzt zu sagen, wir sind wieder auf Augenhöhe, trifft nicht zu.“

Deutschland habe gegen Italien und Argentinien wesentlich defensiver gespielt als vor dem Turnier angekündigt. Zum Glück, möchte man nach dem Studium der Analysen Loys sagen. Denn „ Mannschaften, die das offensive, attraktive Spiel suchen“, haben laut Loy „in Spielen gegen in etwa gleichstarke Gegner geringere Erfolgschancen als die, die eine defensivere Spielweise praktizieren“.

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