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Sport: Angst vor dem Absturz

Die deutschen Turner bangen vor der Weltmeisterschaft in den USA um ihre Existenz

Kienbaum. Die jungen Männer in der Turnhalle von Kienbaum quälen sich über die Geräte. Sie schwitzen und atmen schwer, manchmal fallen sie vom Reck oder schlagen sich ihre Gliedmaßen an den Barrenholmen blau. Das ist Turneralltag. Die Athleten quälen sich im Leistungszentrum Kienbaum östlich von Berlin für die Weltmeisterschaft in Anaheim, die am Samstag beginnt. Qualifizieren sie sich in Kalifornien nicht für die Olympischen Spiele 2004 in Athen, droht der traditionsreichen Sportart der Absturz in die Bedeutungslosigkeit. In Kienbaum wurden schon zu DDR-Zeiten die Spitzenathleten zusammengezogen – ein Hauch von Ostalgie ist geblieben. Andreas Hirsch, der Chef-Bundestrainer, lässt die Turner vor jeder Trainingseinheit auf der Bodenfläche in einer Reihe antreten. Harter Turneralltag.

Trainer Hirsch, ein kleiner Mann, liebt klare Ansagen. Schließlich ist er angetreten, um eine Mission zu erfüllen: die Verhinderung des Absturzes. Um sich für Athen zu qualifizieren, müssen die deutschen Turner – vor zwei Jahren nur WM-Dreizehnte – bei der WM mindestens den zwölften Platz schaffen. Die Vorbereitung „ist tierisch anstrengend“, sagt Sven Kwiatkowski aus Chemnitz. Dreimal täglich trainieren er und seine Kollegen. „Siebeneinhalb Stunden bei diesen klimatischen Bedingungen, das ist nicht einfach“, sagt Trainer Hirsch. Das Ergebnis ist sichtbar: Trotz ihrer Muskelberge sehen die Turner ausgemergelt aus. Blass im Gesicht. Und wenn sie beim Essen sitzen, sprechen sie kaum miteinander.

Das Bild, das die Turner bei ihrer fast stummen Trainingsarbeit bieten, ist gewöhnungsbedürftig. Masochismus? „Jeder, der sich das antut, weiß auch, warum er das macht“, sagt Kwiatkowski. „Jeder weiß, dass sein Arbeitsplatz dranhängt, Trainerstellen, Stützpunkte, Fördergelder – eben alles“, sagt Thomas Andergassen aus Stuttgart. Bis auf das 15 Jahre junge Talent Fabian Hambüchen sind alle hier Sportsoldaten. Und warum sollte die Bundeswehr weiter Plätze für die Turner bereithalten, wenn die nicht mal olympisch sind? Es ist eine eigenartige Mischung aus Existenzangst und Liebe zum Sport, die die Athleten in dieses Straflager treibt. „Man gibt sein Gehirn an der Pforte ab“, sagt Kwiatkowski. Ein trauriger Witz.

Trotzdem, das Gehirn arbeitet. „Eigentlich sollten wir nicht dauernd daran denken, was passiert, wenn wir uns nicht qualifizieren“, sagt Stephan Zapf, der zweite Stuttgarter in der deutschen Riege, „aber wir tun es die ganze Zeit“. In Anaheim müssen sie alle die Angst vergessen. „Alle haben das gleiche Ziel“, sagt Trainer Hirsch. Im Wettkampf treten die Deutschen als Team an. Doch bei ihren Übungen an den Geräten sind sie ganz auf sich allein gestellt. Dann wird es wieder still sein. Und schmerzvoll.

Jürgen Roos

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