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Autor Jewhen Polozhij im Interview: „Die Ukraine hat keine Heimspiele in Donezk“

Der Publizist Jewhen Polozhij über das ukrainische Torwartproblem, freie Presse und die Macht der Oligarchen.

Herr Polozhij, über Ihr Land und seine Politiker wurde vor dem Turnier viel gesprochen. Wie steht es eigentlich um die ukrainische Nationalmannschaft?
Die größte Sorge der Ukrainer ist, dass drei Torhüter ausgefallen sind. Auf die Torhüter wird es ankommen, aber sie sind nicht da. Dabei hätten alle die Nummer eins sein können.

Dann ist es doch umso besser, dass es auch gegen die Engländer geht. Die reisen traditionell ohne Torhüter zu großen Turnieren.
Joe Hart von Manchester City ist nicht so miserabel wie die davor. Allerdings werden englische Torhüter noch schlechter, sobald sie ihre Insel verlassen. Da passiert irgendwas in ihnen. Also kann da was gehen für uns. Leider ist bei den Schweden und den Franzosen mit den Torhütern alles in Ordnung.

Was erwarten die Ukrainer von ihrer Mannschaft?
Für alle Fans und Experten steht fest, dass es schon ein tolles Resultat wäre, wenn es die Mannschaft aus der Gruppe schafft. Andererseits wird es sofort als Misserfolg gewertet werden, wenn die Ukraine das Viertelfinale nicht erreicht.

Wenn man auf die Namen im ukrainischen Kader hört, sind es die alten wie Timoschtschuk, Schewtschenko, Woronin. Ist der ukrainische Fußball stehen geblieben?
Es gibt positive Ausnahmen, vor allem Jarmolenko und Konopljanka sind herausragend talentierte junge Spieler. Leider können sie sich innerhalb unserer heimischen Liga nicht verbessern, es fehlt der harte Wettbewerb, die Leistungsunterschiede sind zu groß.

Kränkt es den Nationalstolz, dass es überwiegend ausländische Spieler sind, die ukrainische Klubs nach vorne schießen?
Die Leute verstehen, dass, wenn Rinat Achmetow, der Besitzer von Schachtar Donezk, einen Spieler wie Adriano für 30 Millionen verpflichtet, er das Geld ja irgendwoher genommen hat. Vielleicht aus dem Haushalt der Region Donezk. Vielleicht hat er die Straßen nicht reparieren lassen. Auch wenn es vereinfacht dargestellt ist: Wenn wir uns über ein Tor von Adriano freuen, akzeptieren wir damit gleichzeitig, auf schlechten Straßen den Rückweg aus dem Stadion anzutreten.

Sehen das wirklich alle Menschen in der Ukraine so?
Wahrscheinlich nicht. Einem Bergmann aus Donezk ist die Finanzierung vielleicht egal. Er hat hart unter Tage geschuftet, kommt dann endlich ans Tageslicht, geht ins Stadion und hat eine gute Zeit.

Die Ukrainer gelten von Natur aus als Kulturpessimisten. Gibt es auch einen Fußballpessimismus in der Ukraine, ein Grundunbehagen der Mannschaft gegenüber?
Als im Qualifikationsspiel gegen Griechenland in Donezk in den ersten zwanzig Minuten gar nichts zusammenlief, fing das Stadion sofort zu pfeifen an, obwohl es um alles ging. Nachher sagte der Nationaltrainer, das wäre das gleiche, als hätte man auf neutralem Platz gespielt. Von wegen Heimspiel. Gegen England und Frankreich spielen wir auch in Donezk. Und deshalb habe ich große Zweifel. Es wäre besser, wir würden in Lemberg oder Kiew spielen, da ist die Unterstützung für die Nationalmannschaft seit jeher größer. In Lemberg verlieren wir nie.

Wann haben Sie das letzte Mal bereut, dass Ihr Land dieses Turnier ausrichtet?
Ich trage dieses Gefühl gerade in mir.

Der Fußball in der Ukraine ist ein Spielball der Oligarchen. Inwieweit ist er ein Spiegel der ukrainischen Gesellschaft?
Lassen Sie es mich einfach erklären: Ich habe schon lange damit aufgehört, unsere Liga zu verfolgen. Die ständigen Skandale und die Korruption machen einen fertig, dazu kommen die käuflichen Schiedsrichter. Wir wissen häufig vorher, wie ein Spiel ausgehen wird. Das macht keinen Spaß. Hinzu kommt, dass ja nicht nur ein Klub in der Hand eines Oligarchen ist. In Wahrheit besitzt oder kontrolliert einer über Schattenmänner gleich mehrere Vereine. Teilweise vier oder fünf. Was die Sache an sich ja schon ad absurdum führt. Wenn diese Vereine gegeneinander spielen, wird das Ergebnis nicht auf dem Feld festgelegt. Die Leute kommen nun allerdings in die Stadien, weil sie an den neuen glitzernden Arenen interessiert sind. Das hat aber mit einem Interesse an der Liga an sich nichts zu tun.

Das klingt nach einer glänzenden Schale um einen ziemlich faulen Kern.
So wie die nationale ukrainische Liga das schlechte Abbild der Oligarchie ist, ist die Europameisterschaft das schlechte Abbild der ukrainischen Gesellschaft und Politik.

Sind Sie auch von europäischen Politikern enttäuscht?
Ich glaube, dass die Probleme der Ukraine zunächst einmal die Probleme der Ukraine sind. Wir können das nicht nach außen verlagern. Ich kann nicht enttäuscht sein von Angela Merkel oder ihren Äußerungen. Weil sie vom deutschen Volk gewählt wurde und sich dem deutschen Volk gegenüber zu verantworten hat. Wenn sie entscheidet, dieses Turnier zu boykottieren, hat das vor allem mit deutschen Befindlichkeiten zu tun. Und es ist deshalb auch ihr gutes Recht, genau so zu reagieren.

Sie sind Schriftsteller und Journalist. Welcher Job ist in der Ukraine schwieriger?
Der eines Schriftstellers. Der Markt für Literatur ist einfach zu klein.

Wie schwer ist es, sich als Journalist Gehör zu verschaffen, und wann muss man mit Repressalien rechnen?
Derzeit gar nicht. Man kann die Regierung kritisieren, wie man will. Da gibt es jedoch ein tiefer gehendes Problem. Wenn die Presse kritisiert, und in der Bevölkerung regt sich wirklich Unmut, dann wird es für die Mächtigen gefährlich. Wenn die Gesellschaft aber selbst auf bedeutende Enthüllungen passiv reagiert, wie das gerade der Fall ist, dann lässt die Regierung die Presse gewähren, weil sie eben nichts befürchtet. Die Regierung sitzt gerade sehr fest im Sattel, sie kontrolliert das Fernsehen und damit die Massen. Wir genießen in unserer Zeitung komplette journalistische Freiheit, können recherchieren, da gibt es keine Einschränkungen. Aber was wir schreiben, hat eben leider auch keine Effekte.

Das Gespräch führten Nik Afanasjew und Lucas Vogelsang.

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