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Lira Bajramaj (Turbine Potsdam).

© dapd

Berliner Fußball aus der Sicht eines Briten: Ein anderes Spiel in einem anderen Land

Frauenfußball bei Turbine Potsdam ist ein ganz neues Spiel für Titus Chalk. Aber es ist nicht nur das Geschlecht, das den Club in der Tat sehr anders macht. Bei einem Besuch wird schnell klar: Dies ist auch die Reise in ein anderes Land - und eine andere Zeit.

Das sanfte Klirren eines Tamburins im Gästeblock macht es deutlich: Dies ist kein normales Fußballspiel. Eher ist es ein packendes„All Geman“-Champions-League-Halbfinale und die Damen des 1. FFC Turbine Potsdam und des FCR Duisburg liefern packende 90 Minuten, die dem großen Namen des Wettbewerbs alle Ehre erweisen. Nach dem 2:2-Unentschieden im Duisburger Hinspiel schenken sich die Mannschaften nichts, und besonders Duisburg erkämpft den 2:2-Halbzeitstand mit packendem Einsatz: Die Spielerinnen stürzen in die Zweikämpfe, passen den Ball scharf und tyrannisieren das löcherige Potsdamer Mittelfeld nach Kräften. Und obwohl Yuki Nagasato kurz vor dem Halbzeitpfiff die Führung für die Heimmannschaft sicher stellt, ist es ein enges Rennen, das die 4.600 Zuschauer an die Kanten ihrer Sitze fesselt. Oder auch an die Kanten ihrer Picknickdecken, die sie gefühlvoll vor sich auf den Betonstufen ausgelegt haben. Einige quietschen bei jeder aufregenden Szene in einer Tonlage, die eigentlich nur eine präpubertäre Stimme bewältigen kann.

Die Zuschauer, Sie merken das schon, sind ein so bunter Haufen, wie ich es noch nie erlebt habe. Und speziell vor dem Spiel erstaunlich leise: Eher kleckerweise kommen sie an der S-Bahnstation an, wandern leise, beinahe entschuldigend, zum Stadion herüber. Keine Spur von den wilden Gesängen, mit denen man die Ankunft der Fans etwa bei einem Champions-League-Finale der Männer erwarten würde. Auch im Stadion suchen sich alle eher ruhig einen Platz, finden sich in Einer- oder Zweier-Gruppen zusammen. Keine Spur der eng gewebten „Kurve“ des Olympiastadions. 

Dieses fan-untypische Gebaren schließt natürlich nicht aus, dass diese Leute nicht auf ihre Art geradezu erschreckend liebenswert wären. Mein erster Blick am Eingang des Karl-Liebknecht-Stadions trifft eine lächelnde Mama in ihren besten Jahren, die gerade auf einem überschaubaren Schwarzmarkt Tickets veräußert. Jenseits der Stadiontore erklärt ein so fideler wie geschäftsuntüchtiger Caterer geduldig der ungläubigen Menge, dass, wenn sie eine Ecke weiterzöge, es dort keine Schlangen gäbe. Über dampfenden Würstchen wimmelt es daraufhin von lächelnden Gesichtern. Wenn sich ein sonniger Nachmittag bei Hertha im Olympiastadion wie der Besuch eines Rockfestivals anfühlt, gleicht das hier exakt einem Straßenfest. Mit meinem Nackensteak in der Hand bin ich bei Deutschlands mutmaßlich vornehmster Fußballveranstaltung fast versucht, nach der Tombola und dem Kuchenwettbewerb Ausschau zu halten.

So weit, so Potsdam, sage ich zu mir selbst, während ich mich zur Haupttribüne hinaufwage, die so sauber ist, dass man vom Boden essen könnte. Als ich aber meine Mahlzeit beendet, mit meinem Sitznachbarn geplaudert und die Masse sorgfältig internalisiert habe, komme ich nicht umhin, festzustellen, dass Turbine Potsdams Fans eine komplexere Gemeinschaft sind als nur eine sterile Horde von Vorstadtmuttis.

Denn was wir nie vergessen dürfen: Dies war mal ein anderes Land – und es bleibt ein Land, das anders ist. Die Grenzposten mögen am Rand der Autobahnen verrotten, doch manche Grenzen brauchen länger, um zu zerfallen – und andere werden sogar immer wieder neu errichtet. Man kann zum Beispiel nirgendwo in Berlin ein Ticket für Turbine Potsdam kaufen – was mir einigermaßen pervers vorkommt. Potsdam selbst erlebt gerade eine schwere Identitätskrise – in Form einer rapiden Kolonialisierung durch extrem wohlhabende Stadtflüchtlinge. Für die Ureinwohner muss das eine extrem beunruhigende Erfahrung sein. Ihr Verein ist ein Bollwerk gegen diese Entwicklung.

„Ich schreibe über Fußballkultur in Berlin“, erzähle ich dem Typen neben mir. „Sie meinen, in Berlin und Brandenburg“, korrigiert er mich. Damit fasst er zugleich zusammen, was Turbine Potsdam hier für viele bedeutet. Allein das Wort „Turbine“ fördert verblasste Erinnerungen an ein industrielles Zeitalter in Brandenburg zutage, in dem die Region mehr war als  nur Berliner Speckgürtel. Wer mag, darf es gerne Ostalgie nennen, doch es ist eine stolze Vergangenheit, die von vielen einfach so ignoriert wird – gerade am anderen Ende der Straße in Berlin.

Ich vermute, dass die absolute Mehrzahl der fahnenschwenkenden Fans in der Menge die Vor-Wende-Zeit des Clubs noch gut erinnert. Überall verstreut sieht man Männer, über deren Bäuchen sich Turbine-Potsdam-Trikots wölben, etwas, was ich bei einem Frauenfußballspiel nicht erwartet hatte. Auf dem Rücken tragen sie die Namen ihrer weiblichen Idole mit vollkommener Sorglosigkeit, was in Anbetracht der Tatsache, dass es sich hier um Fußballfans handelt, ungefähr den Emanzipationsgrad hat, als würde sich einer von ihnen Mamas Strumpfhosen anziehen. Der bewegendste Anblick an diesem Tag sind aber ein Vater und seine Tochter in perfekter Trikotkongruenz, beflockt mit der Nummer 10 von Turbines Star-Spielerin Lira Bajramaj. Andere haben sich für „Peter“ entschieden (Babett Peter, Turbines robuste Abwehrspielerin), was der bereits angenehm durchmischten Menge noch einen Hauch Surrealität gibt.

So wie die Straßen von Potsdam eine seltsame Mischung aus Beton-Plattenbauten und renovierten Altbauten sind, so durchmischen die Tribünen im Karl-Liebknecht-Stadion silberhaarige Pensionäre mit Sonnenbrillen und Anoraks mit mobilen 30-somethings, die in die Potsdamer Seenlandschaft gekommen sind, um hier ihren Nachwuchs auszubrüten. Es gibt eine klare Dichotomie zwischen den neuen Fans des Clubs aus der Mittelschicht, deren Respekt vor der Idee des Frauenfußballs ihrer liberalen Erziehung entspringt, und den traditionellen Turbine-Fans, die Frauenfußball einfach als Tatsache akzeptieren. Während die erste Attitüde als durchaus affektiert bezeichnet werden kann, ist die letztere zutiefst authentisch und das Produkt einer Sozialisation, die ich, als Besucher aus einer ganz anderen Kultur, nur imaginieren kann.

Beim Schlusspfiff danken die am Ende siegreichen Turbine-Spielerinnen jedoch all ihren Fans gleichermaßen, mit der Dankbarkeit, die dem Fußball hierzulande den Gütestempel audrückt. Für sie zählt es keinen Jota, wer ihnen von den Tribünen aus zujubelt und ihre gesunde Indifferenz vereinigt in einem glorreichen Moment die vielen Unterstützerfraktionen. Alle laufen über vor Freude über den Sieg ihres Teams und die Trennlinie in dieser verblüffenden Gemeinschaft ist fortgewischt, für einen Zeitraum, der so kurz sein mag, wie er will. Falls es eine Lösung für das herausfordernde Rätsel um Potsdams sich verändernde Identität gibt, findet man es hier im Karl-Liebknecht-Stadion. Vergangenheit und Zukunft stehen Schulter an Schulter in einer Atmosphäre der Höflichkeit, und die kniehohen Kids, die die Zukunft der Stadt repräsentieren, wissen sowieso so herrlich wenig über Klassen- und Geschlechtergrenzen. Für sie gibt es an diesem sonnigen Nachmittag nur den Fußball – für jung und alt, für reich und arm, für Helden und Heldinnen. Eines Tages, das bleibt zu hoffen, wird ganz Deutschland die Welt durch ihre Augen sehen und die eingebildeten Grenzen und Trennlinien, die man überqueren muss, um von Potsdam nach Berlin zu kommen, werden schließlich in Vergessenheit geraten.

Titus Chalk lebt seit August 2010 als freier Journalist in Berlin. Für "11 Freunde" schreibt er eine Kolumne über die englische Premier League. Für Tagesspiegel.de schreibt er über Fußballkultur in Berlin.

Übersetzung: Johannes Schneider

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