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Sport: Berner Wankdorf-Stadion: Aus! Aus! Aus!

In letzter Zeit häufen sich für Markus Burkhalter die seltsamen Erlebnisse. Der Stadionwart des Berner Wankdorf-Stadions trifft auf den Rängen der Fußballarena ältere Reisende aus Deutschland an, um deren Hals ein Fotoapparat oder eine Videokamera hängt.

In letzter Zeit häufen sich für Markus Burkhalter die seltsamen Erlebnisse. Der Stadionwart des Berner Wankdorf-Stadions trifft auf den Rängen der Fußballarena ältere Reisende aus Deutschland an, um deren Hals ein Fotoapparat oder eine Videokamera hängt. Manchmal haben sie einen Ball dabei und möchten diesen unbedingt über den Rasen kicken. Der Stadionwart sagt dann nicht nein. Er schreitet erst ein, wenn sie versuchen, ein Stück vom Grün mit nach Hause zu nehmen. "Kürzlich wollte jemand sogar den Elfmeterpunkt ausbuddeln und mitnehmen", wundert sich Burkhalter. Wenn heute das letzte offizielle Spiel über die Bühne geht, soll der Heimatverein Young Boys Bern nicht wegen deutscher Melancholiker ins Straucheln geraten. Der Grund für das seltsame Verhalten der Touristen liegt ein paar Jahre zurück.

Es ist der 4. Juli 1954. Das WM-Finale in der Schweiz zwischen dem Außenseiter Deutschland und den unbezwingbaren Ungarn im Wankdorf-Stadion in Bern geht in die 84. Minute. Es steht 2:2. "Sechs Minuten noch, keiner wankt, der Regen prasselt unaufhörlich hernieder." Fritz-Walter-Wetter. "Es ist schwer, aber die Zuschauer, sie harren aus, wann sieht man schon ein solches Endspiel, so ausgeglichen, so packend." Radioreporter Herbert Zimmermann, einem Herzinfarkt nah, schickt seine Sätze im Stakkato über den Äther in die deutschen Wohnstuben. "Schäfer, nach innen geflankt, Kopfball, abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt! Toooor! Toooor! Toooor! Toooor! Tor für Deutschland!" Der Reporter brüllt. Sechs Minuten später schnappt seine Stimme völlig über: "Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister, schlägt Ungarn mit 3:2 Toren im Finale von Bern!"

Der erste Weltmeistertitel der deutschen Elf ging als "Wunder von Bern" in die Geschichte ein. Es war das Spiel der Spiele, der wichtigste Triumph des deutschen Fußballs bis heute. Nicht bloß der sportliche Erfolg von elf Freunden wurde gefeiert, sondern das Comeback einer ganzen Nation: Deutschland war, neun Jahre nach dem Krieg, in den Kreis der zivilisierten Welt zurückgekehrt. Das Stadion Wankdorf in der Schweizer Hauptstadt wurde so zum deutschen Nationaldenkmal im Exil. Und mögen auch die Eidgenossen seit bald 50 Jahren hier ihre Pokalfinalspiele austragen und die Nationalmannschaft ihre wichtigsten Gegner empfangen: Im Grunde ist das Wankdorf deutsch. Mythos hin oder her, sagen nun die Berner. Sie brauchen Platz für eine neue, moderne Sport-Arena. Darum wird Ende Juli gesprengt und die Bulldozer fahren auf. Bald hat die letzte Stunde des legendären Betonrunds geschlagen.

In der Schweiz wird dem maroden Stadion keine Träne nachgeweint. 1952 eigens für die Weltmeisterschaft erbaut, blieb im Wankdorf die Zeit seither stehen. Die Spielerkabinen sehen noch genauso aus, wie die Helden von Bern sie erlebt haben, bloß 50 Jahre älter. Lange schon nagt der Betonkrebs an allen Ecken, ist ein Teil der Tribüne wegen Einsturzgefahr gesperrt. Die paar tausend Zuschauer, die den Young Boys die Treue halten, sitzen auf denselben Holzbänken wie die 64 000 am 4. Juli 1954. Unkraut sprießt zwischen den Sitzreihen. Fällt ein Tor, so müssen die Papptafeln, die den Spielstand anzeigen, von Hand ausgewechselt werden. Museal präsentieren sich auch die Kabinen für die Medien - als hätte Herbert Zimmermann erst gestern seine Sachen gepackt. Die Lautsprecher scheppern, und die Toiletten sehen aus wie jene auf dem Bahnhof in Neapel. Im sauberen Berner Stadtbild ist das Wankdorf ein Fremdkörper.

Mit Verwunderung betrachten die Berner deshalb die deutsche Anteilnahme. So berichtet etwa der Direktor der Berner Baufirma Marazzi, die das alte Stadion einreißen und das neue bauen wird, von deutschen Geschäftspartnern, die bei Verhandlungsterminen im Wankdorf-Stadion von der Erinnerung übermannt wurden und feuchte Augen bekamen. Für die nächsten Wochen haben sich Kamerateams deutscher Sender im Wankdorf angemeldet, um sentimentale Beiträge abzudrehen. Zu spät kommen wird Erfolgsregisseur Sönke Wortmann, der mit den Dreharbeiten für seinen historischen Sportfilm "Das Wunder von Bern" erst 2002 beginnen kann und deshalb das Stadion im Computer reanimieren will. Die Namen jener deutschen Helden waren es auch, die Bundeskanzler Gerhard Schröder am letztjährigen Festakt zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Fußballbundes (DFB) formelhaft beschwörte: Fritz Walter, der Chef. Toni Turek, Fußballgott. Horst Eckel, der Windhund. Ottmar "Ottes" Walter, Bruder vom Chef. Werner Liebrich, der Turm in der Abwehr. Josef "Jupp" Posipal, der Kontinentstopper. Werner Kohlmeyer, liebevoll "Kohli" gerufen. Hans Schäfer, genannt die Flanke. Karl "Charly" Mai. Max "Maxl" Morlock, Instinkt-Torjäger. Schließlich Helmut Rahn, der Boss. Klar ist: Der Mythos wird nicht mit dem Wankdorf untergehen.

Der Geist, den Bundestrainer Sepp Herberger rief, um seine Elf zu einen, war ein alpenländischer: Der "Geist von Spiez". Spiez, ein Flecken am Thunersee im Berner Oberland, diente den Deutschen während der WM als Refugium.

Mit der deutschen Fahne im Herzen

"Drei Wochen Spiez sind drei Wochen Hohes Lied der Kameradschaft", hat Herberger in seinen Erinnerungen notiert, die im Urteil seines Biografen Jürgen Leinemann ("Sepp Herberger. Ein Leben, eine Legende") insgesamt klingen wie "die Selbstaufmunterungen eines kriegsfreiwilligen Fähnrichs vor Verdun". Da war vom "stolzen Gefühl der Pflicht" die Rede, von der "Opfergemeinschaft" des Teams. Noch ganz im NS-Vokabular zuhause, sprach er gar vom "Endsieg", wenn er das Finale meinte. Leinemann schreibt: "In Wahrheit charakterisieren diese Stilproben nicht so sehr die Person Josef Herberger, als die öffentliche und gesellschaftliche Sprache der deutschen Nachkriegszeit. Eine verbale Währungsreform hatte nicht stattgefunden."

Dieses sprachliche Vakuum zeigte sich am 4. Juli 1954 nach dem Abpfiff auch im Wankdorfstadion: "Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt... Deutschland, Deutschland, über alles, über alles in der Welt." Siegestrunken sangen die Anhänger die erste Strophe des Deutschlandliedes, obwohl seit 1952 die unverfängliche dritte Strophe als offizielle Hymne galt. Das kam auf neutralem Terrain nicht gut an. Peco Bauwens, der damalige DFB-Präsident, setzte noch einen drauf. "Mit der deutschen Fahne im Herzen", so kommentierte er das Endspiel, seien die Spieler "auf den Gegner losgestürmt". Als "Repräsentanz besten Deutschtums im Ausland" betrachtete er die Bundeself. Die "Süddeutsche Zeitung" nannte das eine "Sieg-Heil-Rede". Was Bauwens rückwärts interpretierte, sehen Politologen und Soziologen als Aufbruch an. Sie erkennen im Wunder von Bern die emotionale Geburtsstunde der 1949 beschlossenen Bundesrepublik und, so der Politologe Hans-Joachim Winkler, "einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung eines BRD-Nationalgefühls".

Bevor die Sprengmeister Ende Juli zur Tat schreiten, soll der Abschied vom Wankdorf mit einem Fest besiegelt werden - für die Berner eine Party, für die Deutschen eine Beerdigung. Geplant ist auch, die Weltmeister zu holen. Nur fünf sind noch am Leben: Fritz Walter, Ottmar Walter, Horst Eckel, Helmut Rahn und Hans Schäfer.

Bereits 1974, im Alter von 49 Jahren, war Werner Kohlmeyer verstorben. Das Glück hatte ihn schon bald nach dem WM-Sieg verlassen, er verfiel dem Alkohol, wurde arbeitslos, die Ehefrau verließ ihn und nahm die drei Kinder mit, Kohlmeyer jobbte zuletzt als Pförtner bei der "Mainzer Allgemeinen Zeitung". Torhüter Turek verstarb 1984 nach schwerer Krankheit, nach dem er lange bei den Düsseldorfer Verkehrsbetrieben beschäftigt war. Werner Liebrich betrieb eine Toto-Lotto-Annahmestelle und einen Zeitungsladen; er ist 1995 verstorben. Ebenfalls Inhaber einer Toto-Lotto-Annahme war der Nürnberger Max Morlock, der 1994 einer Krebserkrankung erlag. Jupp Posipal, vom Teppichverkäufer zum Polstermöbel-Vertreter aufgestiegen, starb 1997. Karl Mai besaß in München ein Schreibwarengeschäft; 1993 starb er. Der Fußball hatte sie alle zu Helden, aber keinen von ihnen reich gemacht. Nach dem 3:2 erhielt jeder deutsche Nationalspieler: 1000 Mark, eine Waschmaschine, einen Fernseher.

Guido Egli

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