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Sport: Blaue Gänse, grüne Adler

Budapest-Josefstadt, Sonntagabend. Über dem Stadion hängen schwarze Wolken, die Flutlichter gehen an; langsam, sehr langsam tröpfeln die härtesten der Fans in die Ostkurve.

Budapest-Josefstadt, Sonntagabend. Über dem Stadion hängen schwarze Wolken, die Flutlichter gehen an; langsam, sehr langsam tröpfeln die härtesten der Fans in die Ostkurve. Alle warten, aber nichts passiert. "Die Lokomotive nach Auschwitz ist schon angeheizt", das haben sie bisher immer als Begrüßungshymne gesungen, die Fans von Ferencvaros Budapest, wenn ihre Mannschaft zum Lokalderby auf den MTK gestoßen ist. Heute sind sie friedlich. Auch auf ihr berüchtigtes "Waggon! Waggon!"-Geschrei, mit dem sie ebenfalls auf die Deportation der Juden unter den Nazis anspielen, verzichten sie. Aber ein Banner zieht sich grün-weiß, lang und stumm über die Metallgitter am Spielfeldrand: "Aryan Greens" steht drauf.

18 Uhr. Anpfiff. Zum 197. Mal seit 1903 spielen die beiden Budapester Mannschaften gegeneinander. Diesmal ist alles anders. Denn neuerdings gehören die beiden Rivalen ein und demselben Unternehmer. "Das ist eigentlich unvorstellbar. Das ist, wie wenn sich in München jemand die Bayern und die 1860-er zusammenkauft", sagt der Soziologe Miklos Hadas.

Der 1888 gegründete MTK gilt immer schon als jüdischer Verein; Ferencvaros bezieht seit 1899 einen gewaltigen Teil seines Selbstbewusstseins aus der Judenfeindschaft. Die Geschichte beider Vereine, sagt Hadas auf soziologisch, sei ein "Wettbewerb zweier Assimilationsmodelle". Der MTK wurde von jüdischen Großbürgern gegründet, Ferencvaros im gleichnamigen Stadtbezirk von deutschen Kleinbürgern. Und spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg, in dem sich Ungarn auf die Seite Hitlers schlug, verlief die Assimilation der Deutschen erfolgreicher. Ferencvaros wurde zur Prestigemannschaft der ungarischen Nazis, der Pfeilkreuzler, der MTK wurde samt Anhängerschaft in die Konzentrationslager deportiert. Bis heute hat der MTK die wesentlich kleinere, eher intellektuelle Fangemeinde; sie ist auf Budapest beschränkt. Ferencvaros dagegen, von den Fans "Fradi" genannt, zählt seine vielfach aus unteren sozialen Schichten stammenden Anhänger fast nach Millionen. Und sie kommen aus dem ganzen Land. Fradi - das ist eine Weltanschauung.

25. Minute. Der MTK geht 1:0 in Führung. Jetzt müssten sie in der "Loge B-Mitte" ihre berühmten Gesänge anstimmen - so wie sie früher, bevor es Metallgitter gab, in solchen Augenblicken Gänse auf das Spielfeld getrieben haben. Weiße Gänse mit blauen Schleifen, also in den MTK-Vereinsfarben, die an die Zionistenfahne erinnern. Und Gans, das ist in Ungarn bis heute ein Schimpfwort für Juden. Aber diesmal skandieren die Fans wieder nur "Fradi vorwärts!"

Dafür haben andere schon mächtig vom Leder gezogen. Als der Unternehmer Gábor Várszegi, ein bekennender Jude und einer der reichsten Ungarn, im Sommer Ferencvaros aufkaufte, wetterten die Rechtsradikalen, das sei "ein finsteres und gegen die Nation gerichtetes" Geschäft. Ihre im Parlament vertretene "Partei der ungarischen Gerechtigkeit und des Lebens" (MIÉP) polterte, der "hemmungslose Kreis von Geschäftsleuten", der sich Ferencvaros unter die "Krallen" reiße, habe "nichts mit dem Ungartum" zu tun. MIÉP-Vorsitzender István Csurka gab nur eine in Ungarn weit verbreitete Einschätzung wieder, als er von einem Betrug am Volk sprach und die "anständigen, national gesinnten Ungarn" den "mit fremden Wurzeln ausgestatteten Großbürgern" gegenüberstellte. Ferencvaros-Fans sind demnach die "Kinder des braven, einfachen Volkes", während diejenigen, die in der gesellschaftlichen Hierarchie höher stehen, "mit dem Begriff Juden erfasst werden können".

51. Minute. Hrutka trifft zum 1:1 für den FTC. Gewaltiger Jubel auf den Fradi-Rängen. Das Selbstbewusstsein wächst wieder. Stark war es in den letzten fünf Jahrzehnten ohnedies. Denn als Nazi-Mannschaft wurde Ferencvaros von den kommunistischen Regierungen zuerst geschnitten. In jener Zeit, sagt Soziologe Hadas, habe ein Bekenntnis zu Ferencvaros die Züge einer Opposition angenommen: "Antikommunistisch, antirussisch, antiinstitutionell". Den MTK hingegen hatte sich die ungarische Staatssicherheit als "Betriebsmannschaft" geangelt. Und jeder wusste, dass an führenden Stellen dieser Behörde jüdische Landsleute saßen. Später verwischte sich das - das Klischee aber blieb.

78. Minute. Der MTK geht wieder in Führung. Ob unter den aufspringenden Fans auch der Großunternehmer Várszegi ist? Der Herr über den Mischkonzern Fotex, er versteckt sich scheu vor der Öffentlichkeit. Vor der Wende, unter Kádár, war Várszegi einer der beliebtesten Rock-Musiker Ungarns; in den USA hat er sich dann zum Marketing-Fachmann für Unterhaltungselektronik ausgebildet und 1996 den MTK gekauft - durchaus aus Geschäftsinteresse, aber auch, wie er zugab, aus "seelischer Verbundenheit". Aber was treibt ihn, fünf Jahre später den antisemitischen Klub dazuzukaufen? Várszegi sagt, er habe Ferencvaros aus einer wirtschaftlich erdrückenden Notlage gerettet "und damit das Ansehen des ganzen ungarischen Fußballs". Várszegi will 40 Millionen Mark investieren und den Verein vielleicht in fünf, sechs Jahren an die Börse bringen. Der Soziologe Hadas meint, das könnte sich rechnen: "Ferencvaros mit seinem Potenzial ist mehr wert als alle anderen ungarischen Mannschaften zusammen." Ob Várszegi auch einen mäßigenden Einfluss auf die Fans ausüben will? Hadas meint: "Wer mit dem Kopf eines Investors denkt, will nicht Erzieher der Massen sein."

81. Minute. Der MTK erzielt das 3:1. Das bleibt der Endstand. Still rollen die geschlagenen Fradi-Fans ihr "Aryan Greens"-Transparent ein und schleichen sich aus dem Stadion. Draußen wird deutlich, warum sie diesmal friedlich waren: So viel Polizei, so viele Kontrollen hat Budapest schon lange nicht mehr aufgeboten wie bei diesem "heißen" Spiel. Schließlich hatte die letzte Straßenschlacht erst vor einer Woche stattgefunden. Da mussten sich die "anständigen" Fradi-Anhänger von einer anderen Budapester Fangemeinde beschimpfen lassen, mit der Übernahme ihres Vereins durch den Juden Várszegi seien auch sie zu Judenfreunden geworden: "Blaue Gänse statt grüne Adler." Da mussten die Fradi-Fans einfach zuschlagen und zustechen: Judenfreunde? Ausgerechnet sie?

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