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China: Goldene Aussichten

Das Gastgeberland zählt in den olympischen Kernsportarten Leichtathletik und Schwimmen zwar nicht zu den Favoriten. Dennoch hat China gute Chancen, die erfolgreichste Nation bei den Spielen zu werden

China bangt. Eigentlich sollte der Abend des 21. August der Höhepunkt der Olympischen Spiele für die Gastgebernation werden. Um 21.45 Uhr soll, so lautete bisher das ungeschriebene Drehbuch der Spiele, der 110-Meter-Hürdenläufer Liu Xiang zum zweiten Mal eine olympische Goldmedaille gewinnen. Doch spätestens seit Freitag ist klar, dass ein anderes Drehbuch ein ganz anderes Ende für den Abend des 21. August vorsehen könnte: eine bittere Niederlage.

Am Freitagabend ist der Kubaner Dayron Robles in Paris die zweitschnellste je auf dieser Strecke gelaufene Zeit gerannt: 12,88 Sekunden. Damit lag er erneut nur eine Hundertstelsekunde über seinem eigenen Weltrekord, den er im Juni aufgestellt hatte. Von seinem chinesischen Rivalen hingegen sind in diesem Jahr als beste Zeit 13,18 Sekunden überliefert – als Liu Xiang allerdings vor dem Zielstrich locker ausgelaufen ist. Hinzu kommen ein verletzungsbedingter Rückzug und zwei Fehlstarts. Die Zahlen sprechen zurzeit für den 21 Jahre alten Robles, der das ähnlich sieht. „Ich fühle mich sehr gut und locker, ich warte jetzt auf die Olympischen Spiele“, sagte der Kubaner. China muss sich langsam damit anfreunden, eine sicher geglaubte Goldmedaille abgeben zu müssen. Was die große sportliche Frage, die bereits seit Jahren über diesen Spielen schwebt, noch spannender macht: Kann China erstmals auf Platz eins im Medaillenspiegel landen?

Die Chancen stehen gut. 2004 hatte China mit 32 Goldmedaillen Platz zwei hinter den USA (36) belegt. Zwar zählt das Gastgeberland in den olympischen Kernsportarten Leichtathletik und Schwimmen nicht zu den Favoriten. Dafür stehen die Chancen in den klassisch chinesischen Sportarten Tischtennis, Turnen, Badminton und Wasserspringen so gut wie immer. Und die kostenintensiven Bemühungen in Sportarten wie Schießen, Gewichtheben, Boxen und Rudern dürften sich ebenfalls in Medaillen auszahlen. Simon Shibli, Forscher der Sheffield Hallam Universität, traut China bis zu 46 Goldmedaillen zu. Das Land plane seit 15 Jahren, sich als Sportnation zu etablieren, sagte Shibli der „South China Morning Post“, „aber nach dem, was China investiert hat, wird jede Goldmedaille einige Zehnmillionen Dollar kosten“.

Bereits am ersten Tag könnten sich die Investitionen erstmals auszahlen. Du Li kann mit dem Luftgewehr die erste Goldmedaille für China holen. Wie Liu Xiang geht auch sie als Titelverteidigerin bei Olympia an den Start. Die Schützin besitzt im Gegensatz zu Liu Xiang keine millionenschweren Werbeverträge, dennoch spürt auch sie den Erwartungsdruck des 1,3-Milliarden-Volkes. „Natürlich fühle ich einen gewissen Druck“, sagte Du Li, „aber ich empfinde ihn als angenehm, denn nicht viele Athleten haben die Möglichkeit, eine erste Goldmedaille zu gewinnen.“

Wie groß der Druck in China ist, bekamen zuletzt auch ausländische Trainer zu spüren. Ende Juni entließ das chinesische Sportministerium überraschend den deutschen Kanutrainer Josef Capousek. Die Funktionäre sahen keine Chance, bei den Spielen Gold zu gewinnen. Der ehemalige Bundestrainer habe dies aber in seinem Vertrag versprochen. Capousek bestreitet das. „Hier interessieren sich die Funktionäre nur für Gold, Gold, Gold, weil es ihrer eigenen politischen Karriere hilft“, sagte Capousek, „ein langfristiger Aufbau ist nicht gefragt.“ Vor einer Woche traf es auch den serbischen Fußballtrainer Ratomir Dujkovic. Chinas Olympia-Auswahl sei unzufrieden mit seinen Trainingsmethoden gewesen, hieß es. Kurz zuvor war auch Trainer Vladimir Petrovic entlassen worden, nachdem er vorzeitig mit Chinas Fußballnationalmannschaft in der Qualifikation zur WM 2010 gescheitert war.

Die chinesischen Erfolge der vergangenen Jahre sind oft mit Doping in Zusammenhang gebracht worden. Vor den Spielen sind die Kontrollen in China jedoch intensiviert worden. „Die Funktionäre haben immer gesagt, dass ein Dopingfall bei den Olympischen Spielen ein schlimmer Gesichtsverlust wäre“, berichtet Capousek, „was mich daran gewundert hat: Sie haben nie gesagt, dass es unmoralisch oder ungesund für die Sportler ist.“

Womöglich um die Ernsthaftigkeit des Anti-Doping-Kampfes zu unterstreichen, hat Chinas Olympisches Komitee zuletzt acht Dopingfälle öffentlich gemacht. Der Rückenschwimmer Ouyang Kunpeng, der bei den Asienspielen 2006 vier Silbermedaillen gewonnen hat, ist positiv auf das anabole Steroid Clenbuterol getestet worden. Er erhielt wie sein Trainer eine lebenslange Sperre. Dem Ringer Luo Meng, der mit dem Diuretikum Furosemid erwischt wurde, und dessen Trainer erging es ebenso. „Wir haben für Athleten aus dem Nationalkader härtere Regeln“, erklärte Jiang Zhixue, der für Dopingkontrollen zuständige Generalsekretär des chinesischen Olympischen Komitees. Nach seinen Angaben habe Chinas Anti-Doping-Agentur bis Ende Juni 6038 Tests durchgeführt, davon 5095 unangemeldete Trainingskontrollen.

Inzwischen werden die rund 600 chinesischen Olympia-Sportler streng von den Medien abgeschirmt, damit sie sich in Ruhe auf die Spiele vorbereiten. Doch nicht jeder will es ruhig haben. Die Empörung in chinesischen Zeitungen war groß, als Basketball-Star Yi Jianlian während der Trainingsphase mit seiner Freundin um 4 Uhr nachts in einer Pekinger Karaokebar gesichtet wurde. Für die ausländischen Beobachter kann das auch eine gute Nachricht sein: Manchmal geht es auch in Chinas Olympiamannschaft zu, wie bei allen anderen Nationen.

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