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© AFP

China verstehen: Mehr User als die USA

Wir erklären das Gastgeberland, Folge 6: Trotz aller Zensur bringt das Internet ungeahnte Freiheiten.

Ai Weiwei ließ sich nicht einschüchtern. Kurz vor den Olympischen Spielen hatte der chinesische Künstler dem britischen „Guardian“ ein olympiakritisches Interview gegeben. Als Ai feststellte, dass die entsprechende Seite der Zeitung im chinesischen Internet gesperrt war, veröffentlichte er den Text kurzerhand in seinem Blog. Vermutlich auf staatliches Drängen forderte daraufhin Ais Blog-Provider die Entfernung des Beitrags. Der Künstler weigerte sich – und der Text blieb online. Vor einer gewaltsamen Sperrung schreckten die Zensoren wohl vor allem wegen Ais Popularität in der Netzgemeinde zurück. Ein Etappensieg für Chinas Internet-Community.

Letztere beeindruckt, wie so vieles in China, vor allem durch ihre Ausmaße: Ende vergangenen Jahres lag die Zahl der chinesischen Netznutzer bei 210 Millionen, ein Anstieg von mehr als 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bis Ende dieses Jahres wird ein Zuwachs auf rund 280 Millionen erwartet – somit dürfte die chinesische Netzgemeinde schon jetzt die USA überflügelt haben, wo es mit 216 Millionen Nutzern bislang die weltgrößte Online-Community gab. Hinzu kommt, dass in China jede Menge Spielraum für Wachstum bleibt: Erreichen entwickelte Industrieländer derzeit Internet-Verbreitungsraten von bis zu 80 Prozent, so sind in China bislang nur 16 Prozent der Bevölkerung online. Im Vorjahr waren es gerade einmal 10,5 Prozent – ein beispielloses Wachstum.

Für die chinesischen Netznutzer, die sich vor allem aus dem städtischen Milieu junger Akademiker rekrutieren, bedeutet diese explosionsartige Ausweitung einen ungeahnten Zuwachs von Freiheiten – und das, obwohl in China nach wie vor Internetseiten ausländischer Medien und Menschenrechtsorganisationen gesperrt werden, obwohl Chinas Online-Welten unbestätigten Berichten zufolge von bis zu 30 000 „Netzpolizisten“ nach unerwünschten Inhalten durchforstet werden.

Als im Pressezentrum der Olympischen Spiele auch westliche Journalisten auf Seiten nicht zugreifen konnten, stand die Zensur des chinesischen Netzes erneut im Fokus ausländischer Medien. Weniger wird dagegen über die neuen Freiheiten berichtet, die Chinas Internet-Boom seinen Nutzern allen Zensurversuchen zum Trotz gebracht hat. In Blogs und Diskussionsforen formiert sich derzeit eine massive Gegenöffentlichkeit, die über gesellschaftliche Reizthemen oft weitaus freier debattiert als Chinas klassische Medien. Die Zensurbehörden haben dem oft wenig entgegenzusetzen: Allein die Ausmaße der Netznutzung machen eine lückenlose Zensur unmöglich, und auch den gezielten Zugriff auf Einzelblogger verhindert mitunter, wie im Fall Ai Weiwei, deren rapider Prominenzzuwachs.

Immer öfter nehmen zudem Protestaktionen ihren Ursprung im Netz. So gelang es kürzlich einem Blogger in der südöstlichen Stadt Xiamen, mehrere Tausend Menschen gegen eine geplante Chemiefabrik aufzuwiegeln: Nach zweitägigen Demonstrationen sahen sich die Behörden zum Einlenken gezwungen und versprachen Nachbesserungen. Es war der größte, aber sicher nicht der letzte Sieg der chinesischen Netzgemeinde.

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