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Sport: Citizen Kahn

Von Wolfram Eilenberger Am Ende saß er dann wieder ganz allein. Scheinbar verlassen von der Welt, die ihn noch immer bewunderte.

Von Wolfram Eilenberger

Am Ende saß er dann wieder ganz allein. Scheinbar verlassen von der Welt, die ihn noch immer bewunderte. Weinte ein wenig, wie es sich für einen Mann in solchen Augenblicken gehört, und wollte sich nicht mehr erheben aus dem Tor, das er zu unvollkommen bewacht hatte. Er ließ die tropfnassen Handschuhe mit seinen Initialen (O.K.) neben sich fallen und gab sich dem Bewusstsein hin, dass es vorbei war. Allzu gerne hätten wir es in diesem Moment öffentlich vernommen, jenes geheimnisvolle Wort, das sich da in seinem Geist formte. Oliver Kahn nahm sich viel Zeit. Zeit zur Rückschau.

Wie ein großer Film war diese WM an ihm vorübergezogen. Schon vor dem Finale hatten die Analytiker der Nation unterschiedlichste Perspektiven bemüht, hinter das Geheimnis von Kahn, seiner Gier, Besessenheit und seinem unheimlichen Aufstieg zum mächtigsten Fußballer der Erde, zu kommen. Wenn einst Bananen zu seinen Füßen fielen, war es mittlerweile die gesamte Bundesregierung. Binnen nur dreier wundersamer Jahre – ja eigentlich Wochen – mutierte Kahn vom Gestörten zum Mustermann, vom Ausraster zur Leitfigur, vom Affen zum Übermenschen. In einigen Paradeaugenblicken beklomm einen tatsächlich das Gefühl, Kahn sei es gelungen, größer als das Spiel selbst zu werden, es vollends zu kontrollieren und also mit riesenhaftem Auftreten das ganze Turnier unter seinen Schatten zu zwingen.

Letztlich war dem, glücklicherweise, doch nicht so. So konstruktiv verloren haben die Deutschen schließlich schon lange nicht mehr. Der Enderfolg kam nicht zu früh, die jungen Spritzer dürfen sich noch vier Jahre gedulden und lassen bis 2006 auf wirklich Feinstes hoffen. Kaum vorzustellen auch, was ein im Finale elfmetertötender Kahn für die Zukunft des Landes hätte bedeuten müssen. Denn obwohl bei einem Titelgewinn alle – und allen voran Kahn – die erfolgsbedingende Bedeutung der gesamten Mann- und Gemeinschaft hervorgehoben und damit eine demokratiekompatible Funktion des Sports für die Gesellschaft gesucht hätten, wäre doch schlicht das Gegenteil wahr gewesen. Der durchaus ungesunde Wille eines Einzigen nämlich hätte den Erfolg, wie er stets gepredigt hatte, unfehlbar erzwungen. Unter dem Druck dieses neuen allmächtigen Individuums, das unseren tiefsten Traum erfüllt, hätten wir ganz bestimmt kollektiv wieder das Bettnässen angefangen. Und psychisch schwer deformiert wären insbesondere unsere Kinder fortan auf den Sportplatz gezogen, immer mit dem Bewusstsein, den Anforderungen des allgegenwärtigen Über-Kahns letztlich nicht genügen zu können.

Kahn ist groß. Wir sagen es jetzt, da er im WM-Finale so befreiend menschelte, noch lieber und öfter. Aber bevor er nach dem Goldenen Ball das Bundesverdienstkreuz am Band sowie die Ehrenspielführerbinde des DFB verliehen bekommt und also alle Retrospektiven geschönt werden, will man festhalten, dass sich sein Verhalten auf dem Platz über die Jahre bis zum heutigen Tag nicht wesentlich verändert hat.

Einst fiel er Andy Herzog und andere an. Bei diesem Turnier, schon verdrängt, sprang er Rigobert Song nach abgepfiffener Aktion absichtlich ins Kreuz und versuchte, den offensichtlich befremdeten Kameruner darauf noch mit einer englischen Wortsalve zur Tätlichkeit zu verleiten. Es ist eben so in diesem wundervollen Spiel. Von den zu unbekümmerten Brasilianern einmal abgesehen, braucht jede wirklich erfolgreiche Fußballmannschaft ein, zwei Besessene, die in ihrem schonungslosen Selbstbehauptungsdrang auch noch die Minimalanforderungen des Miteinander unterlaufen. Der deutsche Torwart Oliver Kahn gehört mit Leib und Seele zu ihnen. Nicht sein Verhalten auf dem Platz, sondern unsere Beschreibungen und Bewertungen haben sich in jüngerer Zeit gewandelt.

Vier weitere Jahre werden Reporter aus aller Welt jetzt unterwegs bleiben, das Rätsel von Kahns unstillbarer Gefräßigkeit, seinem Erfolgsdrang und des immer wieder durchbrechenden Omnipotenzgehabes biografisch zu ergründen. Soweit bisher ermittelt, hatte der Bub allerdings eine sehr glückliche Kindheit. Für eine zu frühe Trennung vom Elternhaus, eine zerstörte Mutterbindung oder größere seelische Verletzungen finden sich keine Anhaltspunkte. Aber auch in den intaktesten Umgebungen kann ein Kind tiefe Wunden erleiden. Zum Beispiel, manche von Ihnen werden es kennen, wenn die anderen Achtjährigen einen auf dem Bolzplatz immer zuletzt wählen und dann zwangsweise ins Tor stellen. Vielleicht, es ist nur eine Spekulation, gingen dem geschlagenen, im japanischen Regen sitzenden Kahn ja solche Szenen der Kindheit durch den Kopf. Und nicht „Rosebud“, sondern „Torwart“ bleibt Ollis Zauberwort.

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