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Sport: Damals, in Tatabanya

Joachim Deckarm kehrt zurück an den Ort, der sein Leben brutal verändert hat

Saarbrücken. Es war ein Gefühlsausbruch, den sich Joachim Deckarm selbst nicht erklären konnte. Ein Vierteljahrhundert nach dem schrecklichen Zusammenstoß beim Europacupspiel in Tatabanya war der 50-jährige ehemalige Handball-Weltstar erstmals dorthin zurückgekehrt, wo sein Leben eine schreckliche Wendung nahm. Auf Einladung von Lajos Panovics – jenem Spieler, mit dem er damals zusammengestoßen war und den er heute seinen Freund nennt. Kein Groll, nicht einmal ein Hauch Melancholie oder Sentimentalität überzog ihn. „Ich verspürte nur eine große Freude“, sagt Deckarm. Und das an einem Ort, den jeder Handballer auf der Welt mit dem schlimmsten Unfall dieser Sportart in Verbindung bringt.

Es geschah vor genau 25 Jahren. Am 30. März 1979 in Tatabanya, einer kleinen ungarischen Bergbaustadt, 50 Kilometer von Budapest entfernt. Die Zeiger der Hallenuhr standen auf Viertel nach fünf, als ein Tempogegenstoß im Spiel Banyasz Tatabanya gegen den VfL Gummersbach die Tragödie einleitete. Dabei deutete nichts auf einen folgenschweren Unfall hin. Der 90 Kilogramm schwere und 1,93 Meter große Deckarm, damals anerkannt bester Handballer der Welt, fängt im Laufen den Ball eines Mitspielers, sieht nicht, dass sein Gegenspieler Panovics in Abwehrhaltung auf ihn zuläuft. Es kommt zum Zusammenprall. Deckarm stürzt mit dem Kopf auf den Betonboden und Panovics greift sich benommen an die Stirn. Mit einem Schlag war das Leben der beiden Spieler für immer verändert.

Deckarm, Weltmeister von 1978, wurde zum Pflegefall. 131 Tage lag er im Koma. Dass Deckarm überhaupt überlebte, hing dabei mit einem Zufall zusammen. Der ungarische Arzt Peter Penkow, der in der Nähe wohnte, hatte die Szene im Fernsehen verfolgt. Sofort hatte er das Gerät abgeschaltet, seine Tasche geschnappt und war in die Halle geeilt. Dort war tatsächlich, wie er geahnt hatte, kein Arzt anwesend. Ein erschütterndes Bild empfing den spontanen Helfer.

Ein doppelter Schädelbruch, Quetschungen des Haupthirns, ein zehn Zentimeter langer Riss der Hirnhaut und viele geplatzte Gefäße waren die Folge des unglücklichen Zusammenpralls. Als einen „hoffnungslosen Fall“ betitelten ihn später die behandelnden Ärzte. Doch schon nach zwei Jahren wurde Deckarm aus der Reha-Klinik entlassen. Der Kampf gegen die Folgen währt allerdings bis heute. „Alles musste hart erkämpft werden“, sagt seine 80-jährige Mutter Ruth. Um ihm Mut zu geben, hatten die Eltern ihrem Sohn ein Schild über das Bett gehängt, auf dem heute noch zu lesen ist: „Ich kann. Ich will. Ich muss.“ Bis vor zwei Jahren pflegte seine Mutter ihn noch zu Hause. Heute lebt Deckarm im Haus der Parität mitten in Saarbrücken – in der Nähe seiner Mutter.

Deckarms langjähriger ehrenamtlicher Betreuer Reinhard Peters erzählt: „Bis wir ihm beigebracht hatten, die Zähne zu putzen, vergingen sieben Jahre.“ Der ehemalige Sport- und Mathematikstudent, der durch den Unfall jegliche Motorik verloren hatte, erhält heute noch in der Einrichtung täglich Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie.

Dramatisch verändert hat sich aber auch das Leben von Panovics. Seit damals fasste er als Spieler keinen Handball mehr an. Jahrelang litt er an Depressionen. Auch wenn Deckarm immer wieder beteuerte: „Du hast keine Schuld.“ Als Deckarm und Panovics ein Vierteljahrhundert später wieder am Ort der Tragödie standen, war alles vergessen. Nichts erinnerte sie an damals.

Der Betonboden ist längst durch einen elastischen Boden ersetzt worden und die alte Uhr, die Viertel nach fünf angezeigt hatte, ist ausgewechselt. „Ich fühlte mich wie in einer normalen Sporthalle“, sagt Deckarm. Geblieben ist eine Männerfreundschaft. „Alles andere ist nun Vergangenheit.“

Beide haben sogar nach all den Jahren wieder zum Handball zurückgefunden. Panovics trainiert eine Jugendmannschaft, und Deckmann sagt: „Handball wird immer zu meinem Leben gehören.“ Heute, auf den Tag genau 25 Jahre nach dem schweren Sportunfall, spielt die deutsche Nationalmannschaft für Deckarm in Saarbrücken gegen die Weltauswahl. Anlass ist sein 50. Geburtstag, der bereits im Januar war.

Deckarm hat Panovics eingeladen. Als Freund.

Christoph Bertling

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