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Kaum zu sichern. Beim Relegations-Rückspiel in München randalierten Fans von 1860, nachdem ihr Team gegen Jahn Regensburg unterlegen war.

© Peter Kneffel/dpa

Fangewalt im Fußball: "Dann wird das Gehirn abgeschaltet und Adrenalin freigesetzt"

Fanforscher Gunter Pilz spricht im Interview über die Ausschreitungen in der Relegation, neue Strömungen bei den Ultras und die Rolle des DFB.

Von Benjamin Apitius

Herr Pilz, vor der zurückliegenden Saison sagten Sie den „Stuttgarter Nachrichten“, „wir müssen uns nicht vor neuen Gewaltexzessen fürchten und können da relativ entspannt sein“. Die Vorkommnisse in der Relegation müssen Sie erschreckt haben.

Es mag momentan den Eindruck machen, als ob die Gewalt im Stadion eskaliert und zunimmt. Aber wenn man das mal über die gesamte Saison betrachtet, bei wie vielen Spielen etwas passiert ist, dann ist das doch sehr überschaubar. Im Vergleich zu den Hochzeiten des Hooliganismus in den achtziger Jahren, als es an jedem Wochenende Straßenschlachten gab, hat sich einiges geändert.

Bei den Relegationsspielen zuletzt häuften sich die Gewaltausbrüche doch aber sehr.

Jeder einzelne Fall ist einer zu viel und als Gewalt zu verurteilen. Aber nun davon zu reden, dass die Gewalt zunimmt und es schlimmer wird, das trifft die Empirie überhaupt nicht. Es konzentriert sich auf Hochrisikospiele, Traditionsderbys und auf Spiele, bei denen es um unendlich viel geht wie in der Relegation.

War die Gewalt also dem Endspielcharakter mit seinen Emotionen geschuldet?

Nehmen wir einmal das Spiel in München: Nach dem 1:1 in Regensburg stehen alle Zeichen für 1860, zuhause, vor 60 000 Zuschauern, da hat überhaupt keiner mehr mit gerechnet, dass sie das noch vergeigen. Und wenn dann ein Spiel so verläuft, dann kann es natürlich passieren, dass ein Teil der Fans durchdreht. Da muss nur einer beginnen, dann hat das einen gruppendynamischen Effekt, dann wird das Gehirn abgeschaltet, Adrenalin freigesetzt, man lässt seinem Frust freien Lauf und dann kommt es zu solch blödsinnigen Aktionen.

Sind die Relegationsspiele zu einer Art Gewalt-Happening verkommen, tummeln sich da vermehrt Leute, die einen Gewaltexzess förmlich suchen?

Das ist überhaupt nicht auszuschließen. Ich gehe davon aus, dass es da den ein oder anderen gibt, der da nicht hingeht, um Fußball zu schauen, sondern um bei einem hochemotionalisierten Event seine Gewaltfantasien auszuleben. Das hat man auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, das hat also nicht allein der Fußball zu verantworten. Bestimmte Demonstrationen werden auch immer wieder mitbesucht von Leuten, die wissen, dass es da aufgrund der Polizeipräsenz schnell hochschaukelt und man in der Anonymität der Masse seine Gewalt ausleben kann.

Bereits 2006 haben Sie den Begriff „Hooltra“ kreiert, um die Radikalisierung der Ultras und ihre Annäherung an die Hooliganszene zu beschreiben.

Früher wurde ich von vielen Ultras geprügelt für diese Aussagen, heute sagen viele, ich hätte recht gehabt. Es hat sich in der Tat eine solche neue Gruppe gebildet. Wobei deren Zulauf nicht nur aus der Ultraszene kommt, der kommt von Hooligans und aus anderen Gewaltszenen, die sich dann zusammenschließen.

Der Großteil der friedfertigen Ultras gerät durch solche Aktionen immer wieder in Verruf. Distanziert sich die Szene davon?

Deutlicher und nachvollziehbarer ist das beim Thema Rechtsextremismus zu sehen, dagegen engagieren sich die Ultras sehr stark. Mit der Gewalt aus den eigenen Reihen tun sie sich schwerer, offensichtlich weil das faszinierender ist.

Wie sieht es mit der Selbstreinigung aus?

Das ist natürlich immer leicht gesagt. Wenn sich da Chaoten gewaltförmig äußern, sollen das die anderen eindämmen? Da muss man ja immer überlegen, was riskiere ich jetzt, wenn ich mich da einmische. Da wird manch einem sicherlich das Herz in die Hosentasche rutschen und er wird sich dreimal überlegen, ob er solche Leute jetzt zur Ordnung rufen soll.

Es sieht vielmehr danach aus, als würde die Szene ihre Chaoten schützen.

Die Ultraszene lebt heute davon, dass sie sehr groß aufgestellt ist. Und wenn ich viele Gruppen habe, habe ich auch sehr unterschiedliche Interessen. Das scheint wichtiger zu sein als einem sinnvollen Verhaltenskodex zu folgen. Sobald die Polizei einschreitet, solidarisieren sich die, die das eigentlich auch nicht gut finden, plötzlich mit den Gewalttätern gegen die Polizei. Aber es gibt auch Beispiele wie das von Dortmund ...

… als einige Leipzig-Fans von BVB-Fans attackiert wurden ...

... das wurde in den Fanszenen klar verurteilt, auch von Fans, die als gewaltaffin gelten, da wurden Grenzen erkannt.

Eine Dresdener Fangruppierung marschierte kürzlich in Militäroutfits auf und erklärte dem DFB den Krieg.

Der DFB sollte das nicht tolerieren und klar die Rote Karte ziehen. Dresdener, Dortmunder, Frankfurter, sie alle haben Kollektivstrafen vom Verband kassiert und stellen sich nun massiv und sehr feindlich gegen ihn. Deshalb gibt es auch gemeinsame Arbeitsgruppen. Man muss da Geduld haben, sich gegenseitig ernst nehmen, das geht nicht mit Kollektivstrafen und ohne miteinander zu reden, es muss da ein Kompromiss erarbeitet werden.

Sie schauen optimistisch in die Zukunft?

Fußball ist ein hochemotionales Ereignis und keine Veranstaltung für den Friedensnobelpreis. Die entscheidende Frage ist ja: Eskaliert das ganze? Ich sehe momentan sowohl beim DFB und den Vereinen, als auch in der Fanszene Signale, dass alle gewillt sind nicht zu überziehen. Mir ist da also noch nicht bange.

Gunter Pilz, 72, ist Sportwissenschaftler mit Schwerpunkt Gewalt im Sport. 2012 erhielt er den Ethik-Preis des DOSB u. a. für sein Engagement gegen Rechtsextremismus.

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