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Vor zehn Jahren in Genf. Joachim Löw im Kreis der Nationalspieler, denen er in der WM-Vorbereitung die Viererkette zu vermitteln versucht. Rechts neben Löw steht der damalige Kapitän Michael Ballack.

© Imago/MIS

Das EM-Trainingslager beginnt: Deutschlands zwölfter Mann

Joachim Löw ist mit seiner Mannschaft am Dienstag im Tessin angekommen. Das Trainingslager unmittelbar vor einem Turnier hat für die Nationalmannschaft eine fast schon mythische Bedeutung gewonnen.

Die Urszene des modernen deutschen Fußballs hat sich vor genau zehn Jahren im Stade de Genève in Genf abgespielt. Joachim Löw, damals noch Assistent von Bundestrainer Jürgen Klinsmann, führte die Defensivspieler der Nationalmannschaft in die Geheimnisse einer funktionierenden Viererkette ein. Er postierte die Verteidiger auf dem Feld, schob sie hierhin und dorthin, ließ die richtige Spieleröffnung trainieren – und unterbrach die Übung quasi im Sekundentakt. Und noch einmal, bitte! Ach, was hätte man darum gegeben, in diesen Momenten Löws Gedanken zu lesen: Das kann doch nicht wahr sein! Ihr wollt Nationalspieler sein und beherrscht nicht mal eine simple Viererkette!

Ein paar Wochen später, bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land, waren die Ergebnisse dieser intensiven Nachschulung deutlich zu erkennen. Die Nationalmannschaft spielte in drei ihrer sieben WM-Spiele zu null, kassierte im Schnitt weniger als ein Gegentor und wurde am Ende WM-Dritter. Im Trainingslager in Genf, in dem die Nationalspieler Dinge üben mussten, die laut Löw eigentlich jede U 17 beherrschen sollte, war eine solche Entwicklung nicht im Entferntesten abzusehen. Gerade diese Erfahrung ist es, die den Bundestrainer und sein Team mit einer gewissen Gelassenheit jedem neuen Turnier entgegenblicken lassen. Das ist auch jetzt wieder so.

Gestern Nachmittag ist die deutsche Nationalmannschaft im Tessin angekommen. In Ascona am Lago Maggiore wird sie sich in den kommenden zehn Tagen auf die Europameisterschaft in Frankreich vorbereiten. „Hier gilt es die Grundlagen für ein erfolgreiches Turnier zu legen. Das ist in der Vergangenheit immer gelungen, entsprechend bin ich auch jetzt wieder optimistisch“, sagt Löw. „Ich weiß, wie sehr sich die Mannschaft fokussieren und konzentrieren kann, wie sie Trainingsinhalte verinnerlicht, wie ehrgeizig sie ist.“

Wenn man ein bisschen in den Archiven kramt, wird man vor jeder WM und jeder EM seit 2006 solche oder ähnliche Aussagen finden. Mag die Defensive noch so löchrig gewesen sein, der Angriff nicht durchschlagskräftig: Keine Angst, wir haben ja noch unsere Vorbereitung. Nach den positiven Erfahrungen von Genf hat das Trainingslager unmittelbar vor einem Turnier für die Nationalmannschaft eine fast schon mythische Bedeutung gewonnen: Es wurde gewissermaßen zu Deutschlands zwölftem Mann.

Als viele Nationaltrainer es noch für ausreichend erachtet haben, einfach die elf besten Spieler aufzustellen, hat Löw mit seinen Spieler schon wie mit einer Vereinsmannschaft gearbeitet, mit ihnen Abläufe und Automatismen einstudiert. Und doch haben sich die Inhalte seit 2006 entscheidend verändert – weil sich das Spiel der Mannschaft verändert hat. Mit jedem Turnier hat sich der Schwerpunkt mehr von der Defensive hin zur Offensive verlagert. Verfolgten die Deutschen vor zehn Jahren noch einen eher reaktiven Ansatz, wollen sie inzwischen aktiv sein. Löw hat in seinen ersten Jahren als Bundestrainer immer vom schnellen Umschaltspiel geschwärmt, von kurzen Ballbesitzzeiten, wie sie vor allem in der Premier League üblich waren; inzwischen orientiert er sich stärker am Ballbesitzfußball der Spanier, die er spätestens bei der WM 2010 als Maß aller Dinge und damit als Vorbild für die eigene Mannschaft identifiziert hat.

Auch das Thema Fitness steht nicht mehr über allem wie noch zu Klinsmanns Zeiten. Fitness und Kondition waren für die Nationalmannschaft damals ein wichtiges Element, um den Mangel an fußballerischer Qualität zu überspielen. Die aber ist inzwischen im Übermaß vorhanden. Ein reines Konditionstrainingslager hat es zuletzt vor der EM 2012 gegeben. Natürlich geht es nicht ohne Fitness. Die Nationalspieler haben eine lange, kräftezehrende Saison hinter sich, wie man beim Pokalfinale gesehen hat. Aber die körperliche Frische für die EM soll sich die Mannschaft im normalen Trainingsbetrieb quasi nebenbei holen.

Der Bundestrainer kann mit seiner Mannschaft inzwischen auf einer ganz anderen Basis arbeiten als noch vor zehn Jahren – und das in allen Bereichen. „Die Struktur der Mannschaft steht“, sagt Löw. Und auch was Spielidee und Taktik angeht, sind die Spieler längst so textsicher, dass die vorhandenen Kenntnisse nur wieder aufgefrischt werden müssen und Platz für neue Dinge – zum Beispiel das Spiel mit einer Dreierkette – bleibt.

In der Vergangenheit hat der Bundestrainer immer geklagt, dass er in der Vorbereitung nicht genügend Zeit habe, um alle Inhalte konsequent abzuarbeiten. Diesmal hat er den Abflug in die Schweiz sogar kurzfristig um einen Tag nach hinten verschoben, damit die Mannschaft gemeinsam anreisen kann. „Es ist nicht zu viel Zeit“, sagt Joachim Löw, „aber mir reicht es.“

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