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Kießling (links).

© AFP

„Das Resultat lenkt unsere Wahrnehmung": Wahrnehmungsexperte nimmt Kießling in Schutz

Psychologie-Professor Michael Niedeggen verteidigt Stefan Kießlings Reaktion nach seinem Phantomtor. Das Gehirn des Leverkuseners habe völlig normal reagiert und seine erste Wahrnehmung bewusst verändert.

Wir haben Michael Niedeggen zur Wahrnehmung des Phantomtorschützen Stefan Kießling befragt. Der 46-jährige Niedeggen ist Professor für Allgemeine Psychologie und Neuropsychologie an der Freien Universität Berlin. Seine Habilitation schrieb er über die Dynamik des bewussten Sehens.

Herr Niedeggen, wie verarbeitet das menschliche Gehirn etwas, das nicht passiert sein kann?

Sie meinen das Phantomtor von Stefan Kießling?

Genau. Alle wissen heute, dass das Netz im Hoffenheimer Tor ein Loch hatte, doch als das Tor fiel, wussten es die Akteure nicht. Stattdessen sieht der Leverkusener Stefan Kießling zunächst, dass sein Kopfball daneben geht, und dann, dass der Ball im Tor liegt. Wie geht der Mensch mit einer solch widersprüchlichen Wahrnehmung um?

Das ist eigentlich Gedächtnispsychologie. Wir kriegen eine Information, die so eigentlich nicht passiert sein kann. Unser System fängt dann an, das zu korrigieren. Eine Möglichkeit ist, dass das Gehirn die vorhergehende Episode aktiv verändert. Das passiert bei falschen Erinnerungen. Das geschieht nicht im Sinne von Lügen, sondern es wird zu einem anderen Erlebnis.

Der Leverkusener Stefan Kießling könnte also selbst geglaubt haben, dass er den Ball reingeköpft hat, obwohl er es anders gesehen hat?

Er ist ein erfahrener Fußballspieler, es kommt darauf an, was für ihn einen höheren Wahrheitsgehalt hat. Da sind zwei Situationen, die er erst mal nicht zusammenbringt. Es kann durchaus sein, dass sein Gehirn versucht, eine Kongruenz herzustellen. Das ist kein Prozess, der innerhalb einer Zehntelsekunde vor sich geht, das dauert ein bisschen. Die Unsicherheit bleibt, aber am Ende versucht man, das so kongruent darzustellen, wie das Endresultat war.

Tatsächlich jubelt Stefan Kießling nach dem Phantomtor zunächst verhalten, dann grinst er und scheint über das Erlebte nachzudenken.

Es ist schwer, das nur aus einem Gesichtsausdruck zu interpretieren, aber es kann ein Ausdruck dieses Prozesses sein. Dieser Prozess kann sich in der Mimik darstellen: Erstaunen, meinetwegen auch diebische Freude. Doch das beste Argument für Stefan Kießling ist: Wieso haben die anderen Spieler nichts gesagt, die Hoffenheimer?

Sie haben kaum protestiert.

Sie haben aus ihrer Perspektive nicht gesehen, wie der Ball fliegt, sie haben einfach nur das Endresultat gesehen: dass der Ball im Tor liegt. Das heißt, für sie gibt es keine Konfliktsituation wie bei Kießling. Und der hat möglicherweise das Problem in dem Augenblick so aufgelöst, wie es mannschaftsdienlich wäre und wie er es natürlich auch selbst am liebsten hätte: nämlich erst mal zu sagen, es war ein Tor.

Glaubt man bei zwei widersprüchlichen Wahrnehmungen eher der für sich günstigeren Wahrnehmung?

Wenn alles im Kontext stimmt, ja. Ein Berufssportler muss natürlich so egoistisch sein, dass er in diesem Fall den günstigeren Ausgang annimmt.

Oder ist die letzte Wahrnehmung, dass der Ball im Tor liegt, stärker als die vorhergehende?

Letztlich ist es das Endresultat, nach dem wir versuchen, unsere Wahrnehmung zu lenken. Wenn ich ein Endresultat sehe und ich vorher eine Wahrnehmung hatte, die nicht dazu passt, wird das Zurückliegende im Gedächtnis so gedreht, dass es zum Endresultat passt.

Ist es deshalb falsch, dem Spieler Kießling Unehrlichkeit und ein mangelndes Fairplay-Verhalten zu unterstellen, wie es der ehemalige Hoffenheimer Trainer Ralf Rangnick nun macht?

Meines Erachtens ja. Wenn man es später sieht, aus einer dritten Perspektive mit 30 Kameras, dann ist der Fall klar. Doch Stefan Kießling kann nicht davon ausgehen, dass das Netz ein Loch hat, das macht die Situation für ihn so schwer. So ein Fall ist in der Fußballgeschichte noch nicht vorgekommen und wird auch so wohl nicht mehr vorkommen. Das Gehirn von jedem von uns hätte versucht, daraus eine kongruente Geschichte zu machen.

Bis Hoffenheims Ersatzspieler zwei Minuten nach Wiederanpfiff das Loch im Netz entdeckten, wirkte das Tor auf uns wie ein gelungener Zaubertrick.

Richtig. Auch bei einem Zaubertrick glaubt der Zuschauer erst einmal dem Endresultat. Wenn das Kaninchen aus dem Hut klettert, geht man davon aus, dass es im Hut gewesen ist, obwohl man vorher gesehen hat, dass der Hut leer war. Und man ist verblüfft über die Wahrnehmung, die man vorher hatte.

Das Gespräch führte Benedikt Voigt.

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