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Sport: Das Seitpferd nicht gezähmt

Platz sieben von Thomas Andergassen bei der Turn-EM ist auch der Preis für seine Krankheitsgeschichte

Debrecen Thomas Andergassen konnte dem Druck nicht standhalten. Der 25-jährige Stuttgarter verpatzte am Sonntag im ersten Final-Durchgang der Turn-Europameisterschaften in Debrecen in Ungarn seine Seitpferd-Übung und erreichte nur Platz sieben (9,112 Punkte). „Der Ellenbogen ist weggeknickt“, sagte der EM-Vierte des Vorjahres. „Das ist besonders ärgerlich, denn heute war viel mehr drin, weil auch andere nicht durchgeturnt haben.“ Den Titel holte sich Lokalmatador Krisztian Berki (9,775).

Wenige Stunden vor dem Reck-Finale mit dem Vorkampf-Besten Fabian Hambüchen (bei Redaktionsschluss noch nicht beendet) startete Andergassen zwar stark, konnte dann aber seinen Ansprüchen nicht gerecht werden. „Nach der Hüft-Operation in diesem Jahr geht es mir zu 95 Prozent besser. Aber die Schmerzen sind noch da. Noch vor einer Woche habe ich nicht gewusst, ob ich starten kann, weil ich vor Schmerzen nicht schlafen konnte“, sagte der Schwabe.

Nicht bloß die Schmerzen nach dieser OP gehören zum sportlichen Leben des Thomas Andergassen. Denn die OP hat eine lange, zermürbende Vorgeschichte. Dreieinhalb Jahre lang konnte Andergassen überhaupt keine Wettkämpfe bestreiten, bis März 2000. In diesen dreieinhalb Jahren spürte er abwechselnd alles: Wut, Trauer, Entsetzen, Verzweiflung. Und Mutlosigkeit. Meistens dann, wenn er von Freiburg zurück nach Stuttgart, zu seinem Wohnort, fuhr. Im Ohr dröhnte dann noch der Satz von Sportarzt Boschert, dem Mediziner der Kunstturner: „Du hast weiter Wettkampfverbot. Die Hüfte ist noch nicht optimal.“

Die Hüfte war eigentlich nie optimal. Sie schmerzte seit Jahren, und 1996 sagte Boschert: „Deine Hüftknochen wachsen nicht richtig zusammen.“ Andergassen war 15 und schon Deutscher Jugend-Vizemeister an den Ringen. Seine Hüfte verkraftete harte Abgänge nicht, solche Abgänge, wie sie beim Pferdsprung und am Boden auftreten. Also durfte er Pferdsprung und Boden nicht mehr trainieren, und damit konnte er Wettkämpfe vergessen. Beim Turnen muss man alle sechs Geräte absolvieren können.

Für Andergassen war das „ein Schock“. Aber noch ahnte er nicht, was ihm wirklich bevorstand. Er konnte ja vier Geräte trainieren. Aber die Schmerzen gingen nicht weg. 1998 begann der Schwäbische Turnerbund dann, ihn zum Bürokaufmann auszubilden. Doch der Turner redete sich immer ein: Irgendwann würden die Knochen zusammenwachsen, irgendwann würde er wieder turnen. Im März 2000 war es soweit. Boschert sagte: „Alles okay.“ Andergassen empfand es als einen „meiner schönsten Tage“. Sein erster Wettkampf war eine Leistungsdiagnostik in Kienbaum. Er wurde Zweiter, und einen Monat später turnte er in der Bundesliga bei der WKTV Stuttgart. Der Kunstturner Andergassen war wieder geboren. Aber Schmerzen blieben, und schließlich musste er vor kurzem doch an der Hüfte operiert werden. Den Preis dafür zahlte er jetzt bei der EM. dpa/fmb

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