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Sport: Das Supermankostüm für den Pool

Jeder Schwimmer will den Anzug, der schnell machen soll – dabei ist der Effekt wohl eher psychischer Natur

Berlin - Irgendetwas hinderte Paul Biedermann daran, einfach wegzugehen. Oder das Mikrofon vor seiner Nase zur Seite zu schieben. Vermutlich seine gute Erziehung. Von der Diskussion um den neuen Schwimmanzug hält er wenig. Wer nicht gut trainiert, dem hilft auch so ein Teil nicht viel, erklärte er hörbar genervt. Der Oberkörper ist frei, nur die Beine stecken in langen, engen, schwarzen Hosen. So hat er trotzdem gerade einen Vorlauf bei den deutschen Schwimm-Meisterschaften in Berlin gewonnen. Seine Hosen sind von Adidas. Darin ist er auch Europameister über 200 Meter Freistil geworden und gewann in Berlin über 400 Meter Freistil. Gestern trat er über 200 Meter Freistil zum Finale an. Er siegte in neuer deutscher Rekordzeit von 1:46,37 Minuten – und trug dabei den neuen Speedo-Anzug. In die Kameras sagte er danach zur Bekleidungsfrage: „Die Diskussion nervt. Ich habe dieses Rennen gewonnen, nicht der Anzug.“

LZR Racer heißt der neue Anzug der Firma Speedo. Er gilt als eine Art Wunderwaffe, ein Supermankostüm für Schwimmer. Alle reißen sich um ihn – es scheint fast, als würde jeder, der ihn nicht trägt, sogleich wie ein Stein untergehen. Die deutschen Schwimmer dürfen bei den Olympischen Spielen in Peking ihre Schwimmanzüge des australischen Herstellers nicht tragen, denn der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) ist vertraglich an Adidas gebunden.

Bei der WM 2007 in Melbourne tippte Brust-Weltmeister Mark Warnecke aus Essen um 3.51 Uhr eine drastische SMS an seinen Trainer: „Wegen der Anzugskacke kriege ich kein Auge zu.“ Warnecke wollte nicht mit dem Anzug starten, mit dem Adidas den deutschen Verband ausrüstet. Das Material sauge Wasser auf, das Modell der Konkurrenz sei besser. Warnecke wollte diesen Anzug anziehen, der DSV drohte mit einer Konventionalstrafe. Warnecke gab nach und scheiterte sechs Stunden später im Vorlauf.

Beispiel Olympische Spiele 2004 in Athen: Speedo hatte einen Anzug mit einer angeblich revolutionären Fischhaut entwickelt. Arena, damals Ausrüster des DSV, bot diese Version nicht an. Antje Buschschulte, Weltmeisterin über 100 Meter Rücken, schwamm vertragswidrig mit Speedo-Anzug. Sie musste 2000 Euro Strafe zahlen.

Ende der Neunzigerjahre entwickelte sich erstmals der Gedanke, dass Schwimmer in speziellen Anzügen schneller durchs Wasser gleiten könnten. 1998 stellte Adidas einen Schwimmanzug vor, aber erst 1999 begann die große Diskussion. Da sprang Australiens Superstar Ian Thorpe mit einem Ganzkörper-Anzug ins Wasser, der ihm quasi aufgeschweißt war. Nach dem Rennen musste man ihn aus dem High-Tech-Teil regelrecht herausschneiden. Thorpe gewann Rennen um Rennen, und natürlich wollten nun auch andere diesen Anzug. Der Kampf um die Kleider der Schwimmer ist also schon länger entbrannt. Beim LZR allerdings ist „der Grad der Hysterie neu“, sagt Bundestrainer Manfred Thiesmann. „Die Diskussion ist der beste Beweis dafür, was der reine Glaube bewirken kann“, konstatiert Cheftrainer Örjan Madsen trocken. 35 von 39 Weltrekorden in dieser Saison sind in diesem Anzug geschwommen worden. Dass es keinen wissenschaftlichen Beweis dafür gibt, dass das Lycra-Nylon-Gemisch schneller macht als Konkurrenzmodelle – egal. Schwimmer wirken wie elektrisiert, wenn sie den Superanzug tragen.

Es war wie ein Schneeballsystem. Einer schwamm einen Weltrekord, schwärmte von der unvergleichlichen Wasserlage des Racer oder von dem Auftrieb oder von sonst irgendetwas. Der nächste übernahm das Gefühl, irgendwann glaubten alle daran. Bei den jüngsten britischen Meisterschaften schwammen die Finalisten im Racer. „Die erreichten Zeiten, das war der Wahnsinn“, sagt Stefan Lurz, der Trainer und Ehemann von Annika Lurz, Vizeweltmeisterin über 200 Meter Freistil. Bei der Kurzbahn-WM 2008 in Manchester räumten die Briten 24 Medaillen ab, so viele wie noch nie. „Vor einem Jahr“, sagt Lurz, „waren die noch weit hinter den Deutschen. Dabei trainieren sie ja nicht anders als vor einem Jahr, alles eine Frage der Psyche.“

Auf dem freien Markt ist der 500 Euro teure Anzug nicht zu haben. Die Hysterie ist so groß, dass „einem Schwimmer, der keinen LZR hat, schon am Start die Kinnlade runterfällt, wenn neben ihm einer im Racer auf den Block steigt“, sagt Lurz. Freistil-Spezialist Steffen Deibler aus Biberach, der als Vereinsschwimmer den Speedo-Anzug trägt, sagte in Berlin: „Es ist schon toll, wenn man sieht, dass die anderen sich in die Hose machen.“ Genau das ist der Punkt. „Wenn ich denke, dass ich in dem Anzug schnell bin und mich wohl fühle – schwupp, dann bin ich schnell“, sagt Madsen.

Das Ganze ist auch Resultat einer genialen PR-Strategie. Speedo hat die führenden Schwimmnationen der Welt unter Vertrag; Stars also, die im Olympiajahr ohnehin Weltrekorde geschwommen wären. Damit lösten sie die Lawine aus. „Ohne diese Weltrekorde wäre das Ganze doch verpufft“, sagt Lurz.

Nahezu alle deutschen Trainer und Sportler sind sich einig, dass sie gegenhalten müssen. Sonst drohe bei den Olympischen Spielen ein Einbruch. Adidas will in Kürze einen neuen Anzug ausliefern. Es gäbe aber auch noch eine andere Lösung, eine, die Thiesmann vorschwebt: „Man sollte es den Athleten überlassen, was sie in Peking tragen.“ Dazu müsste aber Adidas zustimmen. Doch das bleibt wohl Wunschdenken.

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