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Sport: Den Mythos überholt

Rollstuhlfahrer Joel Jeannot bezwingt Dauersieger Heinz Frei

Berlin. Bei Kilometer 18 zerstörte die Legende ihren eigenen Mythos. „Wenn ich keine Führungsarbeit leisten kann“, keuchte Heinz Frei, „dann werde ich dich nicht noch auf der Ziellinie überspurten. So einen billigen Sieg will ich nicht.“ Joel Jeannot nickte bloß. In diesem Moment wusste er, dass er den Berlin-Marathon gewinnen würde. Er würde der schnellste Rollstuhlfahrer werden, denn er fühlte sich stark, und der Franzose wusste, dass er sein Tempo halten würde. Und dass er im Ziel auch ein bisschen traurig sein würde. Er spürt so etwas wie Wehmut, wenn er sein Vorbild besiegt. Frei ist eine Legende im Rollstuhl-Marathon, 15- mal hat er schon in Berlin gewonnen, und dass er schon bei Kilometer 18 Probleme hat, überhaupt im Windschatten eines anderen zu bleiben, das ist ihm schon seit Jahren nicht mehr passiert.

Dann rollte Jeannot als Sieger durchs Ziel, in 1:25,19 Minuten. Frei, der Schweizer Ausnahmeathlet, zwei Sekunden dahinter, er hatte Wort gehalten. Aber er sagte auch: „Der Joel war heute einfach stärker als ich – ich bin jetzt 46, da musste so etwas passieren.“ Jeannot zeigte stolz auf seine mächtigen Oberarme, und dann sagte er, dass er doch ein bisschen aufgeregt gewesen sei. Immerhin galt er ja als Mitfavorit. Er hat 2003 den Paris-Marathon gewonnen, sein fünfter Sieg bei diesem Wettbewerb, er ist dreifacher Europameister, er war mal dran.

„Ich habe ausgezeichnet trainiert und bin in sehr guter Form“, sagte er. Er hat ja auch genügend Möglichkeiten, sich auf solche Strecken vorzubereiten. Zu Hause, in der Nähe von Bordeaux, gibt es anspruchsvolle Strecken. Sechs Tage in der Woche trainiert der Franzose, 20 Stunden insgesamt. Und mit einem kleinen Problem hat sich Jeannot längst arrangiert: Er hat keinen Trainer. Rollstuhlfahren in Frankreich hat zwar einen gewissen Stellenwert inzwischen, aber das heißt nicht, dass es deshalb auch genügend qualifizierte Trainer gibt. Dafür muss sich der 38-Jährige keine Sorgen um sein Einkommen machen. Er bekommt eine Invalidenrente vom Staat. 1990 hatte er einen Arbeitsunfall mit einem Lastwagen, seither sitzt er im Rollstuhl. Der nationale Sportverband überweist auch noch Geld, dazu kommen die Preisgelder. Und wenn er alles zusammenzählt, dann kann er gut davon leben.

1993 hat Jeannot mit dem Rollstuhlsport begonnen. Irgendwann sah er in Frankreich ein Rennen, begutachtete seine mächtigen Oberarme und sagte sich, dass er so einen Rollstuhl auch schnell fortbewegen könne. „Für mich war der Sport wichtig. Ich habe dadurch mein Leben besser bewältigt“, sagt er. Jeannot arbeitete sich zielstrebig nach oben. Bei den Paralympics in Sydney 2000 galt er als großer Favorit, aber er hatte sich falsch vorbereitet. In den entscheidenden Rennen war er übertrainiert, kam zwar in alle Finals, aber nicht in die Medaillenränge.

Aus den Fehlern hat er gelernt, jetzt trainiert er, auch ohne Coach, überlegter und vor allem erfolgreicher. Er hat in diesem Jahr auch einen neuen Rollstuhl. Ein japanisches Unternehmen hat es hergestellt. 2002 hatte er ein anderes Fabrikat, aber das war nicht der Grund dafür, dass er damals nicht gewann. Das Flugzeug, mit dem er in Berlin einschwebte, hatte seinen Rollstuhl nicht im Laderaum. Der Stuhl war in einem anderen Flieger. Als Jeannot an der Strecke hilflos den Start der Rollstuhlfahrer beobachtete, war der Stuhl immer noch verschollen. Erst als Jeannot nach dem Rennen in sein Hotel zurückkam, stand dort sein Rollstuhl.

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