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Historische Streifen: Die Mannschaft des Meidericher SV, die 1963/64 Vizemeister wurde. Vorne links: Horst "Pille" Gecks (siehe Bild unten).

© imago sportfotodienst

Sportdokumentationen: Denkmäler auf DVD

Nicht nur der DFB bringt eine Dokumentation über den WM-Titel heraus, auch viele Fans verewigen ihre Helden und Vereine in selbstgedrehten Filmen. Sie wollen sich daran erinnern, wo sie herkommen. Und die Erinnerung festhalten.

Beim ersten Training danach versucht es Ralf Dusend erneut. „Sach’ mal einer, von wo ich geschossen habe“, ruft der Mittelfeldspieler von Fortuna Düsseldorf seinen Kollegen zu. Sie zeigen ihm die Stelle, von der er am Samstag zuvor das 1:0 für die Fortuna beim VfB Stuttgart erzielt hat: halblinke Position, vielleicht 25 Meter vor dem Tor. Mit links hat Dusend geschossen, obwohl der rechte sein starker Fuß ist. Der Ball schlägt dennoch im rechten Winkel ein. Nun versucht es Dusend erneut, schießt einen Ball nach dem anderen aufs Tor, wieder mit links, aber diesmal ohne Torwart. Nach zehn Schüssen hört er auf. Kein einziger ist reingegangen. Ein Tor kann man nicht wiederholen.

Dusend erzählt diese Geschichte 30 Jahre später in dem Dokumentarfilm „Fortunas Legenden. Tradition kann man nicht kaufen“, der im April 2014 beim 11-mm-Fußballfilmfestival in Berlin den Publikumspreis gewann. Die beiden Filmemacher und Fortuna-Fans Lars Pape und Holger Schürmann hatten sich irgendwann mal gefragt, „was machen eigentlich die ganzen geilen Spieler, denen wir damals zugejubelt haben?“, wie Lars Pape erzählt. „Wir wollten ihnen ein filmisches Denkmal setzen.“

Die Verbindung aus Fußball und Film ist fast so alt wie die 1895 gegründete Fortuna. 1897 entstand das erste Fußballdokument der Filmgeschichte – der französische Einminüter „Football“, der englische Fußballer zeigt. 2006 lockte Sönke Wortmanns WM-Doku „Deutschland. Ein Sommermärchen“ vier Millionen Zuschauer in die deutschen Kinos. Am 10. November wird „Die Mannschaft“ in Berlin vorgestellt, eine Dokumentation über den Weltmeisterschaftssieg der deutschen Nationalelf 2014 in Brasilien.

Seit einigen Jahren entdecken zunehmend Fußballfans das Genre des Dokumentarfilms für sich. Der Kieler Filmwissenschaftler Jan Tilman Schwab, Autor des Buches „Fußball im Film“, sieht darin einen Trend, der bereits vor rund 25 Jahren begonnen hat. „Weil VHS-Kameras verhältnismäßig billig und gängig waren, konnten Fans nun ihre Ideen auch umsetzen. Auch wenn die Ergebnisse mitunter filmisch noch etwas dürftig waren.“

Den Anfang in Deutschland machten 1991 Fans des FC St. Pauli mit ihrem Film „… und ich weiß, warum ich hier stehe“ über ihren Kampf gegen Neonazis im Stadion und an der Hamburger Hafenstraße. Durch die Digitalisierung sei es für Fans heute noch leichter geworden, Filme selbst zu drehen und zu schneiden. Neue Finanzierungsmöglichkeiten wie Crowdfunding tragen ebenso zur „Demokratisierung der Produktionsmittel“ bei, wie Schwab es nennt.

Pape und Schürmann waren die Ersten, die versuchten, eine Fußballdoku per Crowdfunding zu finanzieren. „Alle, die mit Filmen zu tun haben, haben uns gesagt: Ihr seid verrückt, mit Fortuna kriegt ihr keine 3000 Euro zusammen.“ Am Ende kamen mehr als 100 000 Euro zusammen, insgesamt kostete der Film 120 000 Euro. Im Film kommen Fortuna-Spieler der vergangenen 70 Jahre zu Wort. Eine Düsseldorfer Zeitreise vom deutschen Meistertitel 1933 bis zum Absturz in die vierte Liga und der Rückkehr in die Bundesliga. Dazwischen erzählen Anhänger von persönlichen Höhepunkten ihrer Fankarriere. Sie erzählen vom ersten Stadionbesuch, von unvergesslichen Auswärtsfahrten samt Tankstellenplünderung und ihren größten Spielen – Erfahrungen und Gefühle, die es so ähnlich auch in Blau-Weiß, Schwarz-Gelb oder Grün-Weiß geben dürfte.

Mancher ehemaliger Spieler musste erst davon überzeugt werden, mitzumachen. So wie Ralf Dusend, der von 1977 bis 1987 rund 240 Mal für Fortuna gespielt hat und beim ersten Telefonat skeptisch fragte: „Warum holt ihr mich dafür aus der Kiste?“ Pape antwortete ihm: „Weil du mein persönlicher Held als Kind warst.“ Bei der Premiere im November 2013 in Düsseldorf feierten 1200 Zuschauer die Legenden – auch jene, die sie nie spielen gesehen hatten. „30 Jahre alte Fans kannten Ralf Dusend ja nicht mehr“, sagt Pape. „Jetzt werden Spieler wie er wieder auf der Straße gegrüßt.“

Ein ähnliches Projekt gibt es seit 2013 in Dortmund: Jan-Henrik Gruszecki, Marc Quambusch und Gregor Schnittker, Fernsehjournalisten und Borussen-Fans, drehen gerade einen Film über Franz Jacobi und seine 17 Mitstreiter, die 1909 den „Ball Spiel Verein Borussia“ gründeten. „Am Borsigplatz geboren. Franz Jacobi und die Wiege des BVB“, wird der Titel lauten. „Die 18 Brüder sollten mal in die erste Reihe geholt werden“, sagt Gruszecki. Auch er und seine Mitstreiter starteten einen Aufruf über die Crowdfunding-Plattform Startnext. 120 000 Euro gaben sie als Minimalbudget für den Film an. Auch der BVB half mit, nahezu alle Sponsoren des Klubs gaben mindestens 5000 Euro dazu. Am Ende kamen laut Gruszecki rund 260 000 Euro zusammen.

Filmwissenschaftler Schwab sieht einen Grund für den Erfolg der Fandokus gerade in der Nähe der Filmemacher zum Verein: „Beim Erstellen von Filmen wie Fortunas Legenden hilft das Herzblut der Filmemacher, einen Zugang zu Protagonisten zu finden.“ Außerdem biete sich gerade der Dokumentarfilm als Genre für Fußballfilme an: „Die Inszenierung von Fußball in authentischer Weise ist extrem schwierig“, sagt Schwab. Die Ansprüche der Fans an Fußballdokumentarfilme seien geringer als an Fußballspielfilme. „Einer Doku verzeiht man drei schwächere Protagonisten, wenn es der vierte wieder rausreißt.“

Zurück aus dem Off. Ehemalige Spieler wie der Meidericher Horst "Pille" Gecks lassen Filmemacher und Zuschauer an der Geschichte des MSV teilhaben.

© Privatarchiv Knoor, Lütjens,Wildberg

Ein solcher Rausreißertyp ist Johann Sabath, einer der Protagonisten des Films „Meidericher Vizemeister“. Matthias Knorr, Michael Wildberg und Kristian Lütjens – allesamt Filmautodidakten und Fans des MSV Duisburg – erzählen darin, wie eine bessere Straßenmannschaft in der ersten Bundesligasaison 1963/64 überraschend Vizemeister wurde. Von den Spielern waren neun im Duisburger Stadtteil Meiderich aufgewachsen, wenige Häuserblocks voneinander entfernt. Dieser zweite Tabellenplatz ist bis heute der größte Erfolg des Vereins, doch von offizieller Seite habe die Mannschaft nie ein „Wort der Dankbarkeit erhalten“, sagt Kristian Lütjens, der sich vor allem um Dramaturgie und Schnitt gekümmert hat. „Ihre Geschichte ist nie angemessen erzählt worden.“ Dazu gehört auch die Anekdote von Sabath, seinem Mitspieler Hartmut Heidemann und dem roten Mercedes 32 SL von MSV-Trainer Rudi Gutendorf. Aus Wut über Gutendorfs hartes Training pinkelten sie das Auto an – und wurden vom Trainer erwischt und zur Rede gestellt. Die Antwort der beiden ist in der Duisburger Fanszene längst zum Running Gag geworden und auf einem Aufkleber verewigt: „Welches Auto?“

Es ist aber nicht nur eine Hommage an die urigen Typen der erfolgreichsten MSV-Mannschaft. Es ist ein Zeitdokument über die Anfänge der Bundesliga, mit Hintergründen zu ihrer Entstehung. Zudem ist es ein Heimatfilm über das Leben im Ruhrgebiet nach dem Krieg. Interviews mit den Meidericher Vizemeistern wechseln mit Originalfilmaufnahmen und Spielberichten sowie aktuellen Aufnahmen der damaligen Schauplätze ab. Der Wandel des Duisburger Stadtteils Meiderich steht dabei stellvertretend für die Entwicklungen im gesamten Revier.

Anders als in Düsseldorf und Dortmund mussten Lütjens und seine Kollegen mit einem Minibudget von 12 500 Euro haushalten. Auf Crowdfunding verzichteten sie bewusst: „Wir waren bemüht, das Thema aus der Öffentlichkeit raus zu halten, weil wir nicht wussten, was überhaupt daraus wird“, sagt Lütjens. Dass manchmal auch gar nichts daraus wird, hat sich in diesem Sommer beim Reviernachbarn Schalke 04 gezeigt, wo ein Crowdfunding-Filmprojekt von Fans über den Uefa-Cup-Sieg 1997 am Geldmangel scheiterte.

Mit dem Erfolg haben die drei Duisburger Filmemacher genauso wenig gerechnet wie damals die Spieler mit dem Vizemeistertitel. Die erste DVD-Auflage von 1000 Stück war nach anderthalb Tagen weg, mittlerweile sind 3500 verkauft. „Anschließend haben Kinder von ehemaligen Spielern uns geschrieben, dass sie jetzt erst ihre Väter richtig verstehen, was diese Zeit damals für sie bedeutet hat“, sagt Kristian Lütjens.

In Düsseldorf soll Fortunas Trainer Oliver Reck schon vorgeschlagen haben, dass sich jeder neue Spieler als erstes „Fortunas Legenden“ ansehen müsse. In Dortmund laufen noch die Dreharbeiten. Weil es kein Filmmaterial aus der damaligen Gründerzeit mehr gibt, werde der Film wohl „sehr knoppig“ werden, sagt Jan-Henrik Gruszecki und meint nachgestellte Szenen, wie sie in den Geschichtsdokus des früheren ZDF-Historikers Guido Knopp vorkommen. Die Uraufführung ist zum 105. Vereinsjubiläum geplant. Gruszecki wünscht sich, „dass die Leute aus dem Kino gehen und sagen: Boah, geil, jetzt weiß ich, was um den 19. Dezember 1909 passiert ist.“

So unterschiedlich die Fandokus thematisch auch sind, so ähnlich sind ihre Ziele: Es geht darum, sich daran zu erinnern, woher man kommt. Und diese Erinnerung festzuhalten. Weil sie zu kostbar ist, um sie Außenstehenden oder den Klubs zu überlassen. Fans wollen selbst gestalten. Es geht ihnen darum, die Geschichten ihres Vereins – ihre Geschichte – zu erzählen. Denn wiederholen kann man sie nicht. Genauso wenig wie ein Tor.

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