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Sport: Der anschwellende Chor des Mitgefühls

Wie bei der WM 1990 und 2002 scheitert Afrikas letztes Team im Viertelfinale auf dramatische Weise. Auch Ghanas Niederlage gegen Uruguay war ein Schauspiel allererster Güte – mit Tränen, Schurken und Applaus

Asamoah Gyan, 24, war nicht zu trösten. Sein Gesicht lag auf dem feuchten Rasen von Johannesburg, er presste die Arme so fest an seinen Körper, als müsste er sich selbst stützen. Und Gyan heulte. Es war ein furchtbarer Anblick in dieser dramatischen WM- Nacht. So schlimm, dass sogar die Vuvuzelas verstummten. Dann endlich schleppten ihn die Kollegen in die Kabine, und die Zuschauer, mehr als 80 000 sahen dieses Häufchen Elend dort unten, zeigten Gespür für den großen Moment: Sie alle setzten noch ein letztes Mal ihre Plastiktröten an die Lippen und pusteten hinein. Es war der anschwellende Chor des Mitgefühls.

„Shakespeare und Dickens hätten Schwierigkeiten, die richtigen Worte hierfür zu finden“, hieß es in Ghana am nächsten Morgen im Radio. Der Vorhang war gefallen. Was für ein Finale! Nach einem intensiv geführten WM- Viertelfinale gegen Uruguay stand es 1:1 in der Verlängerung, die Spieler waren müde und platt, da griff Ghana ein letztes Mal an in der Nachspielzeit, der 121. Minute. Der Mann mit der Nummer 9, Uruguays Stürmer Luis Suarez, übernahm auf der Bühne die Rolle des Bösen: Erst wehrte er famos (und fair) einen Ball auf der Linie ab, den Nachschuss aber klärte er im Stile eines Flugzeugeinweisers. Die Arme riss er so deutlich nach oben und stoppte damit den Ball, dass dem Schiedsrichter gar nichts anderes übrig blieb, als ihm die Rote Karte zu zeigen. Abgang Suarez, Auftritt Asamoah Gyan. Dieser legte sich den Ball zurecht, ein ganzer Kontinent schaute ihm zu – elf Meter waren es bis zum Heldendasein. Doch Gyan knallte den Ball an die Latte. Peng. Es war die viel zitierte Stille nach dem Schuss.

Uruguays Mann mit der Nummer 9 stand da am Kabineneingang, er weinte nun nicht mehr, sondern schrie und ballte die Fäuste. Er hatte sich geopfert, so pervers das auch klingt. Der Stürmer von Ajax Amsterdam wird nun beim Halbfinale gegen Holland gesperrt sein. Und in Afrika wird er verachtet, aber Uruguay war wieder im Turnier. Hinterher ätzte er: „Das war es wert, hinausgestellt zu werden.“ Und meinte in Anspielung auf das Handtor von Diego Maradona 1986 bei der WM in Mexiko: „Am Ende ist die Hand Gottes jetzt meine.“ Der letzte Akt war da schon vorbei, das Elfmeterschießen.

Nach dem 1:0 für Uruguay lief ausgerechnet jener Asamoah Gyan in den Strafraum, als erster Schütze Ghanas. Was für ein Gefühlsmoment, den Fans stockte der Atem, zumal Gyan den Ball nicht etwa sicher ins untere Eck, sondern spektakulär-gefährlich ins rechte obere Dreieck drosch. Applaus, Applaus. Doch das Schauspiel war noch lange nicht beendet: Erst scheiterte ein Ghanaer (Drama!), im Gegenzug ein Uruguayer (Erlösung!) – und gleich wieder ein Afrikaner. Es war der dritte hintereinander verschossene Elfmeter, der vierte insgesamt an diesem unglaublichen WM-Abend. Kurz danach war Schluss, Uruguays tätowierter, langhaariger Stürmer Sebastian Abreu lupfte den Ball cool ins Tor. Es war das letzte Tor zum 5:3. Aus, vorbei. Keine Zugabe.

„Hero, but Zero“, sagten sie später im südafrikanischen Radio, als die Zuschauer geschafft über die dunklen Stadionparkplätze zu ihren Autos liefen. Ghana war als letztes afrikanisches Team bei dieser ersten afrikanischen Weltmeisterschaft gescheitert, wieder war es nichts geworden mit einer Halbfinal-Teilnahme eines afrikanischen Teams. Bei der WM 2002 hatte Senegal schon dramatisch im Viertelfinale gegen die Türkei verloren, durch ein Golden Goal. Und bei der ersten Viertelfinalteilnahme eines afrikanischen Teams bei der WM 1990 scheiterte die Mannschaft von Kamerun um den legendären Roger Milla gegen England – natürlich ebenfalls nicht nach 90 regulären Minuten: Kurz vor Schluss hatte Gary Lineker die Engländer mit einem Elfmetertor in die Verlängerung gerettet und sie in der 105. Minute durch einen weiteren Strafstoß ins Halbfinale geschossen (das für die Engländer bekanntermaßen ein paar Tage später weniger schön verlaufen sollte, aber das ist eine andere WM-Geschichte).

Exakt 20 Jahre und einen Tag nach diesem WM-Abend von Neapel sank Asamoah Gyan auf den feuchten Rasen von Johannesburg und weinte. Sein Kollege Kevin-Prince Boateng ging auf eine letzte traurige Abschiedsrunde und winkte ins applaudierende Publikum. Die Zugabe aber sollte doch noch folgen, 24 Stunden später: Kein Geringer als Nelson Mandela lud Ghanas Helden zum Dinner ein. Eine großes Finale nach einem großen Spiel.

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