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Sport: Der Entwaffnungskünstler

Boxprofi Sven Ottke gewinnt den WM-Vereinigungskampf, weil er für Byron Mitchell einfach nicht zu fassen ist

Berlin. Sven Ottke taumelt. Es ist kurz vor Mitternacht in Berlin. Oben im Ring der Max-Schmeling-Halle wird die Schlussrunde geboxt. Eine rechte Gerade und ein schwerer linker Haken des bulligen Byron Mitchell treffen Ottkes ungedecktes Kinn. Die meisten der 10 500 Zuschauern springen entsetzt von ihren Plätzen auf und denken vermutlich an Wladimir Klitschko, den solche Schläge vor einer Woche von den Beinen geholt hatten. Zeit zum Nachdenken hat Ottke keine. Instinktiv entscheidet der 35-Jährige sich für das Richtige. Er geht ran an Mitchell, hält und klammert ihn. Das bringt Sekunden, dann muss er flitzen – also Fäuste hoch und flinke Füße. Und Mitchell immer hinterher – mit seiner harten Rechten im Anschlag. Einmal feuert er sie noch ab. Ein Luftloch. Von der Wucht seines wilden Schwingers gezogen, dreht Mitchell sich noch einmal um die eigene Achse wie ein Angetrunkener. Er kriegt den Deutschen nicht mehr zu fassen. Der Schlussgong ertönt – Mitchell lässt entnervt die Fäuste fallen, Sven Ottke aber reckt seine Arme himmelwärts. Er weiß, dass er gewonnen hat. Äußerst knapp zwar, aber gewonnen.

Kurz nach Mitternacht verkündet der Ringsprecher das Punkturteil des Titelvereinigungskampfes. Ein Punktrichter hat WBA-Champion Mitchell vorn (116:112), die beiden anderen aber den Weltmeister der IBF (115:113 und 116:114). Daraufhin binden zwei Herren im Smoking dem neuen Doppelweltmeister im Super-Mittelgewicht die mächtigen wie kitschigen Gürtel um den Leib. Ottke sieht fast so aus wie ein Krieger in Rüstung. Dann greift er sich das Hallenmikrofon und sagt: „Die zwölfte Runde war Scheiße – der Rest war geil.“

In den nächtlichen Diskussionen wird sich vieles um die dramatische Schlussrunde drehen. „Wie Svennie diesen Hammer weggesteckt hat – alle Achtung“, krächzt sein Trainer Ulli Wegner. „Das zeigt seine Klasse, Routine und Cleverness.“ Vermutlich liegt darin das Geheimnis seines Erfolgs. Es sind eben nicht nur die Runden, die Ottke mit optischen Vorteilen für sich entscheiden kann, sondern, dass er sich geschickt aus der Affäre zu ziehen vermag, wenn es brenzlig wird. In vielen Kämpfen hat Ottke bewiesen, dass er über kritische Situationen hinwegkommt. Ottkes wahre Qualität zeigt sich in der Bedrängnis. „Seine Schläge tun nicht weh“, wird Mitchell später berichten, „aber seine Blitzserien desorientieren dich.“ Das ist wohl das Kernstück seiner Taktik. Ottke ist ein defensiver Boxer, der über seine Gegner mit kleinen Schlagserien herfällt. Und noch ehe sie reagieren können, ist er schon wieder verschwunden. „Ottke ist aalglatt, wendig und schnell“, eben „cagy“ (ausgeschlafen), wie Mitchell erzählt. Viele muskelbepackte Schlägertypen aus Übersee haben den Berliner herausgefordert. Bisher sind sie alle unverrichteter Dinge heimgeschickt worden. „Svennie entwaffnet sie alle“, sagt sein Trainer, „er lässt einfach ihre Schlagstärke nicht zur Geltung kommen.“ Und während Wegner das erzählt, streichelt er Ottke liebevoll über die Wange: „Mit Sven ist es wie mit dem Wein – je älter, desto besser.“

Der Mitchell-Clan nickt zustimmend. Allen voran Carl King, Sohn des berüchtigten Box-Zaren Don King. „Er ist ein intelligenter Boxer und hat genau das getan, was ich ihm auch geraten hätte“, sagt King und wedelt dabei grinsend mit zwei US-Fähnchen umher. Aber: „Seht in sein Gesicht“, sagt Mitchells Trainer Al Bonanni und macht eine Kopfbewegung in die Richtung, wo Ottke eigentlich schon sitzen sollte. „Ihr werdet sehen, wer härter geschlagen hat.“

Sven Ottke kommt gegen 01.30 Uhr aus seiner Kabine. „Beim Duschen habe ich mich gut gefühlt“, sagt Ottke. „Stress habe ich nur im Gesicht.“ Im linken und rechten Augenwinkel haben sich bei ihm bunte Schwellungen breit gemacht. „Jetzt seht ihr, was ich am Boxen hasse.“ Blessuren gehören zu diesem Sport wie Schweiß und Tränen – und, wenn es gut geht, Ruhm und Reichtum. Etwas mehr als eine Million Euro soll Ottke für diesen Sieg bekommen haben. Es war sein 30. im 30. Kampf. 17 Mal hat er seinen Titel erfolgreich verteidigt. „Es wird noch weitere Kämpfe geben, ich bin noch nicht fertig.“

Offiziell steht im Sommer eine Pflicht-Titelverteidigung gegen Antwun Echols an. Der Amerikaner wird sowohl bei der IBF als auch bei der WBA in der Rangliste an Platz eins geführt. Denkbar ist aber auch ein anderes Drehbuch. Sven Ottkes großes Ziel ist es, auch noch den dritten Titel in seinem Limit, dem des WBC, zu gewinnen. Den WBC-Titel hält der Kanadier Eric Lucas. Den fordert am 5. April Ottkes Stallgefährte Markus Beyer in Leipzig heraus. Sollte Beyer nicht gewinnen, wäre der Weg frei für Ottke. Sein Manager Wilfried Sauerland bestätigt solche Überlegungen. „Sven steckt voller Pläne und neuer Herausforderungen. Aber wir wollen erst mal warten, was am 5. April passiert. Bis dahin soll Sven mal schön relaxen.“

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