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Sport: Der Glanz ist geliehen

Leipzig kämpft um internationales Flair – heute bei der WM-Auslosung steht die Stadt im Mittelpunkt

Am Abend stand die Stadt in einer Reihe. Tausende Leipziger säumten am Donnerstag bei Einbruch der Dunkelheit die Straßen, um ihre Vorfreude auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 zu demonstrieren. An den Anfang der Menschenkette, die trotz schlechten Wetters wenige Lücken aufwies, stellte sich der deutsche Rekord-Nationalspieler Lothar Matthäus, der am heutigen Abend mit anderen Fußballstars die WM-Vorrundengruppen auslosen wird (20.30 Uhr, live in der ARD und bei Premiere). „Die Stadt macht Spaß“, sagt Matthäus. In diesen Tagen weiß jeder Fußballer und Funktionär, was er zu sagen hat, wenn er auf Leipzig angesprochen wird. Joseph S. Blatter, der Präsident des Fußball-Weltverbandes Fifa, spricht von einer „warmen Atmosphäre“.

Für Leipzig, dessen Bürger ihre Stadt in Anlehnung an Los Angeles gern L.E. abkürzen, sind diese Tage der erste Test in Sachen WM-Tauglichkeit. Mit der Bewerbung für die Olympischen Spiele 2012 war die ostdeutsche Messestadt schon in der Vorrunde gescheitert, das Internationalen Olympische Komitee stufte sie als „zu klein“ ein. Stück für Stück aber wandelt sich die Heimat von Johann Sebastian Bach. Die Bürgerhäuser in der Fußgängerzone, zu DDR-Zeiten dem Verfall preisgegeben, wurden renoviert, Großkonzerne wie Porsche und BMW haben sich angesiedelt, ein Flughafen entstand – wenn auch etwas überdimensioniert –, ebenso ein neues Messezentrum, in dem in dieser Woche die Fifa tagt. „Wenn man bedenkt, wie es hier vor 15 Jahren aussah, kann man sich über den Fortschritt nur wundern“, sagt Hans-Georg Moldenhauer, der Chef des Nordostdeutschen Fußballverbandes.

Nimmt man Berlin aus, ist Leipzig der einzige ostdeutsche Austragungsort der WM. Egidius Braun hatte als Präsident des Deutschen Fußball-Bundes diesen Spielort gegen die Bedenken mancher Organisatoren durchgesetzt. „Eine WM nur im Westen hätte den internationalen Zuschlag nicht erhalten“, ist sich Braun noch heute sicher. Der Bund bezuschusste großzügig den Neubau des Zentralstadions, das in die weitläufigen Tribünen des alten Stadions, in dem einst 100 000 Zuschauer Turnfeste und DDR-Länderspiele erlebt hatten, eingefügt wurde. 108 Millionen Euro hat die neue Arena schon verschlungen, mindestens weitere acht Millionen werden nötig sein, um das Hauptgebäude vor dem Stadion entsprechend der WM-Normen zu sanieren. Ungeachtet dessen fanden beim Confed-Cup im vergangenen Sommer stimmungsvolle Spiele hier statt, beim Duell zwischen Weltmeister Brasilien und Europameister Griechenland wogte unter dem geschwungenen Stadiondach minutenlang die La Ola der Zuschauer.

Andere ostdeutsche Bewerber wie Dresden, Magdeburg und Rostock hatten ihr Interesse schnell zurückgezogen, als die Anforderungen des Weltfußballverbandes Fifa an die WM-Spielorte bekannt wurden. Dazu gehört ein modernes Stadion mit 40 000 Sitzplätzen. Leipzig hat alle Pflichten mit viel Mühe erfüllt, sportlich aber kann die Stadt nicht einmal nationale Maßstäbe erreichen. Die beiden Vereine FC Sachsen und Lokomotive Leipzig kicken sich durch die Amateurligen. „Hier muss dringend etwas passieren, damit das Stadion ausgenutzt wird“, mahnt WM-Organisationschef Franz Beckenbauer.

Seit einem halben Jahr verhandelt Michael Kölmel, einst der erfolgreichste Filmrechtehändler Deutschlands, inzwischen ein selten glücklicher Stadionbesitzer, erfolglos mit der Stadt und Investoren über den Verkauf des Objekts. Erst in dieser Woche fand eine Lokalposse ihr Ende. Am Stadion hatte die Telekom ein Werbebild an eine Mauer gemalt, ohne allerdings dafür Geld zu zahlen. Kölmel drohte deshalb pünktlich zur WM-Auslosung mit der Sperrung der Arena. In einer Nachtschicht ließ die Telekom die Fläche nun kurz vor Ablauf des Ultimatums überpinseln.

Leipzigs internationales Flair wirkt nicht nur am Zentralstadion zuweilen wie ein geliehenes Gut. Anlässlich der Tagungswoche der Fifa werden in den Straßenbahnen alle Durchsagen auf Englisch und Französisch wiederholt, die „Leipziger Volkszeitung“, einst Blatt der SED-Bezirksleitung, publiziert ihren Sportteil ebenfalls mehrsprachig. Doch vor dem Bahnhof, wo die Fifa ein paar ihrer bunten Fahnen in provisorische Ständer gesteckt hat, klafft eine riesige Baustelle. Es ist nicht die einzige. Die halbe Stadt ist aufgerissen, nur ein paar Tannenzweige verdecken am Markt ein riesiges Sandloch für den neuen Citytunnel. Touristen klagen nach Umfragen des Tourismusverbandes zunehmend über den Verkehr in Leipzig, der von Umleitungen und Staus gelähmt wird.

Doch die Stadt ist festen Willens, die Finanzmittel aus dem Olympia-Sofortprogramm zu verbauen, die ansonsten verfallen würden. Auch in der Fußgängerzone beherrschen Kräne und Bagger das Bild. „Zur WM werden die meisten Baustellen verschwunden sein“, verspricht die Leiterin des Verkehrsamtes, Edeltraud Höfer. Die Leipziger haben ihre eigene Art, mit dem permanenten Übergang umzugehen. Sie werfen ihre Glühweintassen vom Weihnachtsmarkt nach dem Austrinken in die Baulöcher.

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