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Sport: Der Kampf um Contenance

Nachdem es für Jens Lehmann bei Arsenal lange aufwärtsging, erlebt er nun in London eine harte Saison

Die Zuschauer an der White Hart Lane, der kompakten Heimstätte von Tottenham Hotspur im Norden Londons, waren am Verzweifeln. 36 097 Fans sahen bei strahlendem Sonnenschein, wie eine scheinbar unbezwingbare Mannschaft von Arsenal kurz davor war, ihrem Erzrivalen die größtmögliche Erniedrigung zuteil werden zu lassen – Arsenal führte 2:1 und war auf dem Wege, den Titel in der englischen Premier League zu gewinnen. Doch als schon die Nachspielzeit lief, hätte Jens Lehmann fast noch alles verloren. Als der Ball weit weg von ihm an der Seitenlinie herumtrudelte und Tottenham verzweifelt versuchte, in Ballbesitz zu gelangen, attackierte Deutschlands damalige Nummer zwei im Tor Tottenhams Torjäger Robbie Keane. Tief im Strafraum schlenderte Lehmann zum Iren und schubste ihn zu Boden. Es gab Elfmeter. Als Keane dann verwandelte, wurde es laut auf den Rängen, Tottenham war eine Niederlage erspart geblieben.

Wie sich später zeigte, reichte Arsenal ein 2:2 an jenem Tag immer noch zum Titel. Aber Lehmanns Fehler auf dem Platz des Rivalen blieb für viele dauerhaft in Erinnerung in Zusammenhang mit Arsenals Titelgewinn am 25. April 2004. „Er hat einen Fehler gemacht“, sagte sein Trainer Arsene Wenger nach dem Vorfall. Keane hätte Lehmann zwar provoziert, „aber da hätte er nicht reagieren sollen. Jens weiß das auch. Er ist ein intelligenter Junge“. Trotzdem wurden schon am Wochenende des Titelgewinns gegen Lehmann in den als kritisch bekannten englischen Medien die Messer gewetzt. Der Independent titelte: „Der aufbrausende Lehmann ist die einzige Schwachstelle in Arsenals Panzer“ und listete eine Menge anderer Momente auf, in denen Lehmann keine Disziplin gezeigt hatte. Darunter war ein Ballwurf gegen Southamptons Torjäger Kevin Phillips und ein Schubser gegen Manchester Uniteds Mittelfeldspieler Cristiano Ronaldo.

Den absoluten Tiefpunkt seiner Laufbahn bei Arsenal erreichte Lehmann aber später, nach dem Vorfall von Tottenham. Er wurde von Wenger ins zweite Glied versetzt und durch Ersatztorwart Manuel Almunia ersetzt. Lehmann gewann seinen Platz nur zurück, weil der Spanier ohne Not selbst einige Fehler machte.

Zwei Jahre später sieht nun alles anders aus. Tatsächlich haben sich beim inzwischen 37 Jahre alten Lehmann Leistungen und Temperament so sehr gebessert, dass er Ende vergangenen Jahres im deutschen Nationalteam sogar seinen alten Rivalen Oliver Kahn verdrängte.

Der Moment, ab dem alles für ihn in die richtige Richtung zu laufen schien, war das englische Pokalfinale 2005. In einem Spiel, das größtenteils von Manchester United dominiert wurde, hielt Lehmann das 0:0, parierte dann im Elfmeterschießen einen Schuss von Paul Scholes, und Arsenal hatte den FA-Cup, die prestigeträchtige Trophäe, gewonnen. Angespornt durch die gute Vorstellung und den Gedanken, erster Mann im deutschen Tor zu werden, spielte Lehmann eine herausragende Saison 2005/2006 – was international in unglaublichen 853 Spielminuten ohne Gegentor kulminierte, Rekord in der Champions League bedeutete und Arsenal ins Finale brachte. Auch wenn er dort nach einem Foul Rot sah und Arsenal 1:2 gegen den FC Barcelona verlor, Lehmanns Ruf hatte sich in den englischen Medien klar verbessert, und Arsenals Fans zogen es wieder vor, den Schiedsrichter für unschöne Resultate verantwortlich zu machen.

Wie hat es Lehmann geschafft, alles umzudrehen? Steve Griffiths, Sportredakteur der französischen Nachrichtenagentur AFP in Großbritannien, glaubt, dass Lehmann dadurch motiviert wurde, dass er bei Arsenal fast fallen gelassen wurde. „Als Jens zu Arsenal kam, wurde er nur als Ersatz für die Klub-Legende David Seaman gesehen und seine Ausraster schienen diese Ansicht noch zu verstärken“, sagt Griffiths. „Aber von Arsene Wenger fallen gelassen zu werden, war definitiv eine große Motivation für Lehmann. Das hat seinen Stolz getroffen – und er spielte in den zwei Spielzeiten danach wie ein Mann, der etwas beweisen will.“ Gordon Law, Fußballredakteur bei der „South London Press“, sieht es auch so, dass der Formanstieg bei Lehmann bemerkenswert ist. „Daher haben ihm die Leute auch alle Untaten vergessen, die er veranstaltet hat, als er zu Arsenal gekommen ist.“

Trotz des Formanstiegs zeigte eine amüsante und bizarre Konfrontation von Lehmann mit Didier Drogba beim Spiel Arsenal gegen Chelsea und der verbale Krieg mit Chelseas Mittelfeldspieler Frank Lampard in der englischen Boulevardpresse vor einigen Wochen, dass Lehmann sein Temperament wohl doch nicht immer im Griff hat. „Er ist so aufbrausend wie immer“, sagt Griffiths, „das hat sein Zusammenstoß mit Drogba gezeigt.“

Tatsächlich wird Lehmanns Temperament zurzeit einem rigorosen Test unterzogen, weil Arsenal eine enttäuschende Saison spielt. Der Englische Meister von 2004 ist zurzeit in der Tabelle weit hinter Manchester United und Chelsea auf Platz drei. Arsenal kam am Dienstag beim Tabellenletzten FC Watford nur zu einem mühsamen 2:1-Erfolg und hat bereits 14 Punkte Rückstand auf Manchester United. Dazu hat Wengers Entscheidung, dem alternden Torwart nur eine Vertragsverlängerung für eine Saison zu geben, für Spannungen gesorgt – und dafür, dass sich der FC Sevilla plötzlich auch für Lehmann zu interessieren scheint.

Die kommenden Wochen werden anstrengend für Lehmann werden. Es wird sich zeigen, ob er in der Premier League seine neu gefundene Contenance bewahren kann – oder ob der Vorfall mit Drogba ein Indikator dafür ist, dass Jens Lehmann einen Rückfall in schlechte alte Zeiten durchmacht in einem Moment, in dem der Druck auf ihn und seinen Klub wächst.

Aus dem Englischen übersetzt von Claus Vetter

David Byers[London]

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