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Talentjagd: Der Kampf um die Kinder

Ein 15-Jähriger wechselt im Sommer von Hertha BSC zu Arsenal London – und erlebt ungewollt den ganzen Wahnsinn der Talentejagd. Leander Siemann ist ein Sonderfall, wie es ihn selten im Fußball gibt.

Berlin - Auf einmal bist du einer von ihnen. Bist mittendrin, in einem futuristischen Flachbau mit schrägem Dach und großen Fenstern, rundherum nichts als das Grün der Fußballplätze, und sitzt im ersten Stock, neben all den Stars: Cesc Fabregas, Robin van Persie, Arsène Wenger, die Fußball-Elite des englischen Spitzenklubs FC Arsenal London, die einträchtig in Zehner-Gruppen an den Tischen sitzt, mit den Mitspielern, Physiotherapeuten und Platzwarten, während fünf Köche das Essen zubereiten, und mit einem blonden Jungen aus Deutschland.

„Das war schon cool, das mal mitzukriegen“, sagt Leander Siemann. Der 15-Jährige klingt, als ob er über einen Traum spricht, aus dem er in Berlin wieder aufgewacht ist. Doch der Traum geht weiter, denn im Sommer wechselt er von Hertha BSC in die Jugendabteilung Arsenals. „Das ist jetzt meine Riesenchance“, sagt er.

Die Meldungen über seinen Wechsel fielen in eine Woche, in der Herthas Jugendabteilung reichlich Schlagzeilen schrieb. Nachdem ein 14- und ein 15-Jähriger von der TSG Hoffenheim abgeworben wurden, suspendierte Hertha beide. Ein Scout Hoffenheims nannte Hertha einen „Stasiverein“, die Talentsichter des Bundesligisten erhielten daraufhin Hausverbot. Und nun, scheint es, lässt sich Hertha auch noch ein Talent nach England abwerben. Dabei ist Leander Siemann ein Sonderfall, wie es ihn selten im Fußball gibt, und zeigt gerade dadurch im Kontrast den ganzen Wahnsinn des Profi-Geschäfts, der schon im Kinder- und Jugendalter beginnt.

Als Joachim Wunderlich mit seinem Sohn Leander Siemann in Nordlondon zum Probetraining bei Arsenal fuhr, warteten vor dem Trainingsgelände schon Jugendliche aus Brasilien, Israel und Rumänien mit ihren Beratern. „Das ist ja wie Leibeigenschaft“, schimpfte ein holländischer Vater und zog mit seinem Sohn ab. Wunderlich und Leander blieben, er hatte es ja seinem Sohn versprochen. Leander sollte ein Jahr in England zur Schule gehen, um sein Englisch zu perfektionieren. Aber Leander wollte weiter Fußball spielen, also organisierten seine Eltern über Bekannte ein Probetraining bei Arsenal. Er hinterließ einen guten Eindruck, aus einem Jahr wurden drei, so lange dauert sein Ausbildungsvertrag, der ab Oktober gültig ist, wenn Leander 16 wird.

Doch Leander ist kein Teenager, der die Familie mit seinem Talent ernähren muss. Seine Eltern sind beide Ärzte, haben ein Urlaubshaus in Sizilien, Leander spricht fließend Italienisch, hat am Gymnasium einen Notenschnitt zwischen 2,0 und 2,4. Mit seiner blonden Mähne sieht er aus wie ein angehender Pianist, dabei hat er das Klavierspielen aufgegeben, für den Fußball. Viermal die Woche hat er Training bei Hertha, dazu Balltraining mit einem Privattrainer und physiotherapeutische Koordinationsübungen. Alles für das große Ziel: Profifußballer.

„Das Geld ist uns egal“, sagt sein Vater, „es geht nur darum, ihm Fußball und Schule gleichzeitig zu ermöglichen.“ Der 66-Jährige Kardiologe besteht auf einer guten Schulbildung. „Es wäre Wahnsinn, nur auf Fußball zu setzen.“ Bald wird Leander bei Arsenal zur Schule gehen, „sie suchen deutschsprachige Lehrer für ihn“, schwärmt Wunderlich, Leander wohnte beim Probetraining bei der Gastmutter, die schon Fabregas beherbergte. Doch die Traumwelt hat auch Schattenseiten. 60 Seiten ist Leanders Ausbildungsvertrag lang, darin ist genau geregelt, wie viel er pro Spielminute erhält. Zum Probetraining durften die Eltern nicht auf das Gelände. Als Wunderlich bei einem Testspiel Fotos von seinem Sohn knippste, teilte ihm der Verein mit, das sei verboten. Hertha und Arsenal sprachen über die Ablösesumme, es ging um sechsstellige Summen – mein Sohn wird verkauft, habe seine Frau gesagt. Die Medien stürzten sich auf den Wechsel, berichteten, viele ohne je mit der Familie gesprochen zu haben. „Ich habe all den Rummel vielleicht unterschätzt“, sagt Wunderlich. Berater riefen an, der Arzt traf sich mit Spielervermittlern: 80 Prozent für uns, 20 Prozent für euch, sagten sie, er lehnte ab. „Man kann doch nicht mit 15-Jährigen Handel treiben“, sagt er.

Leider kann man doch. „Leander ist ja eher zufällig zu Arsenal gekommen“, sagt Frank Vogel, sein Jugendtrainer bei Hertha, bis Juni noch. „Normalerweise schicken die Klubs Scouts, denn der Sog nach talentierten Spielern wird immer stärker, die Jugendlichen immer jünger, da herrscht kein Maß mehr.“ Dabei leidet Hertha darunter, dass das Jugendbudget von etwa 3,5 Millionen Euro auf 2,5 Millionen Euro gekürzt wurde. Jugendkoordinator Vogel trainiert nun selbst die U 16, um eine halbe Stelle zu sparen. Doch die Berliner sind auch nicht zimperlich, wie der Fall der beiden suspendierten Neu-Hoffenheimer zeigt. „Wir investieren Zehntausende Euro in die Ausbildung, da setzt man auf die Spieler, mit denen wir planen können“, sagt Vogel. Auch Verteidiger Leander Siemann wird nur noch eingewechselt. Bis er im Sommer nach London geht.

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