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Sport: Der Mann mit dem dicken Kopf

Für den jungen schwäbischen Fußball-Tüftler, der damals als Spielertrainer bei Victoria Backnang in der Landesliga arbeitete, besitzt das erste Treffen mit Dynamo Kiew und dem Trainer Walerij Lobanowski noch heute Erweckungscharakter. Ralf Rangnick, derzeit bei Hannover 96 auf dem Weg in die Bundesliga, schwärmt noch heute von jenem Freundschaftsspiel im Winter 1985, "als wir in Sondereinsätzen unseren Kunstrasenplatz zu zwei Drittel geräumt hatten, auf dem restlichen Teil war das Glatteis unter einer hohen Schneedecke versteckt".

Für den jungen schwäbischen Fußball-Tüftler, der damals als Spielertrainer bei Victoria Backnang in der Landesliga arbeitete, besitzt das erste Treffen mit Dynamo Kiew und dem Trainer Walerij Lobanowski noch heute Erweckungscharakter. Ralf Rangnick, derzeit bei Hannover 96 auf dem Weg in die Bundesliga, schwärmt noch heute von jenem Freundschaftsspiel im Winter 1985, "als wir in Sondereinsätzen unseren Kunstrasenplatz zu zwei Drittel geräumt hatten, auf dem restlichen Teil war das Glatteis unter einer hohen Schneedecke versteckt". Keine deutsche Mannschaft wäre auf solch gefährlichem Untergrund zu einem Freundschaftsspiel angetreten, "doch selbst ein Weltstar wie Oleg Blochin hat nur mit ganz einfachen Turnschuhen gespielt". Hinterher fragte sich Rangnick, warum er geglaubt hatte, "dass die vielleicht mit 13 oder 14 Mann spielen". Zweieinhalb Jahre später wurde Rangnick beim EM-Halbfinale im Stuttgarter Neckarstadion bestätigt. Wie in der Fabel vom Hasen und dem Igel liefen die Italiener den "Roten Sputniks" hinterher. Statt 2:0 hätte das UdSSR-Team, das zu 90 Prozent mit den Kickern von Dynamo Kiew identisch war, auch mit fünf Toren Vorsprung gewinnen können.

Auf unzähligen Geschichten dieser Art gründet das Phänomen vom Trainer-Guru Lobanowski. Und so hat Rangnick das Geheimnis von dessen Erfolgen auch noch verfolgt, nachdem er selbst Chef beim VfB Stuttgart geworden war. Vor zwei Jahren schickte er einen Jugendtrainer täglich in die Sportschule Ruit. Aus dessen Expertise über das zweiwöchige Trainingslager des ukrainischen Spitzenteams ließen sich jedoch keine sportlichen Mysterien ableiten. Oft beobachtete Meister Lobanowski nur reglos draußen auf seinem Stuhl, während fünf seiner Assistenten, alle ehemalige Nationalspieler aus der Dynamo-Schule, mit ihren Nachfolgern übten. Öfter trainierten die auch ohne den berühmtesten Lehrmeister des Ostens. Dass dennoch alles in seinem Sinne funktionierte, war klar; jeden Abend wurden Inhalte und Trainingsziele zwei Stunden lang mit Lobanowski abgestimmt.

Wie Rangnick ist es vielen Kollegen, auch manchen Klub-Managern, ergangen, die diesem Mann auf die Schliche kommen wollten. Dem Westen hat sich Lobanowski nie richtig geöffnet; die Beziehung war eher einseitig: über seinen ukrainischen Beobachter-Stab mit Hunderten von Mitarbeitern, darunter auch etliche Sportwissenschaftler, wollte er immer nur wissen, wie bei den interessanten und bedeutenden Klubs in Europa gearbeitet wurde, und wo es irgendwo etwas Neues gab. Als ihn dann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Herrscher und Scheichs der Emirate und Kuwaits mit Gold und Dollars zuschütteten, um mit ihm ein Fußball-Reich im Morgenland aufzubauen, folgte die Antenne seines Satellitenempfängers stets den Spielen der Champions League. Weil zu seinem Leben aber richtiger Fußball gehörte, ließ er den aufgesetzten Luxus des Orients schon nach zwei Jahren liegen. Den Ruf der Heimat nahm er 1997 mit Freude an - sogleich wurde an der Wohnung des Volkshelden die erste Fernseh-Schüssel von Kiew montiert. Lobanowski kam mit seinem alten Masterplan zurück, noch einmal aus einem Fußball-Kindergarten ein Weltklasse-Team zu formen. Zweimal hatte dies ja schon geklappt; 1975 und 1986 gewann Dynamo Kiew den Europapokal der Pokalsieger.

Es mag an der Sprache oder auch an Lobanowskis Seele liegen, dass die Welt abseits der ukrainischen Wälder und Steppen mit dem 62-Jährigen nicht richtig warm wird. Interviews waren ihm schon als UdSSR-Coach ein Greuel; er hat sich Prawda und allen von KP und Moskau gesteuerten Presse-Organen mit den kühnsten Ausreden verweigert. Auch noch heute mag er, bis auf ganz wenige Ausnahmen, keine Journalisten. Und so erschließt sich der Fußball-Revolutionär der Außenwelt nur durch den Blick auf dessen Werk. Lobanowskis Spieler, Lobanowskis Teams drücken aus, was dieser Mann nur im Kreis seiner Vertrauten erzählt: Wie er das 4-4-2 zur Weltreligion des Fußballs gemacht hat; wie man mit Pressing, Verschieben und Überzahl schaffen auch stärkere Gegner in die Bredouille bringt. Oder die Lehre vom kompletten Spieler, der auf jeder Position, außer der des Torwarts, verwendbar ist. Und über allem grenzenlose Disziplin.

Beim Streben nach dieser Perfektion, die außer Lobanowskis Team nur noch der AC Mailand zu seinen Glanzzeiten Ende der Neunziger erreicht hat, ist der Chefideologe von Kiew einsam geworden. Wie er mittlerweile auf der Bank sitzt, regungslos, schon sein eigenes Denkmal, wirkt er geradezu autistisch. Eine Herzkrankheit hat ihn gezeichnet, auch die Haut macht ihm Probleme, und viele fragen sich, ob es um den "Schweiger" herum mit rechten Dingen zugeht. In den Zeiten der Global players könne Lobanowskis Masche, die sehr viel mit Kasernierung zu tun habe, nicht länger funktionieren, wenn Superstars und Multimillionäre wie Schewtschenko und Luschni aus Mailand oder London lediglich zu Länderspielen einfliegen. Da könne doch die Autorität des alten Lehrers gar nicht mehr wirken. Ist wirklich nichts dran an der These, dass die Kameras, welche den dicken roten Kopf unter der Schiebermütze suchen und dessen Lethargie noch zoomen, schon Teil oder ein Beleg für die öffentliche Demontage Lobanowskis sein könnten?

Wenn das alles stimme, was derzeit im "Spiegel" und im deutschen Fernsehen über Lobanowski erzählt wird, "dann haben wir es mit einem senilen Despoten zu tun, der mit den Methoden von vorgestern arbeitet", sagt Karl-Heinz Heimann, der Herausgeber des "Kicker". Wenn es einen gibt, der die Stellung Lobanowskis am ehesten beurteilen kann, dann ist es der 76-jährige ehemalige Chefredakteur, einer der ganz wenigen Freunde von "Lobo". Er könne allen in Deutschland nur versichern, dass der Chefcoach der Ukraine nach wie vor alles ganz fest im Griff habe, sagt Heimann. An Lobanowskis Autorität gebe es keinen Zweifel.

Muss man vielleicht besser sagen, noch nicht. Ein Scheitern in den Relegationsspielen gegen Deutschland würde wohl auch das Ende der Legende Lobanowski bedeuten. Die erste WM-Qualifikation der Ukraine dagegen wäre dann wohl in Japan und Korea der Abschluss seiner Karriere.

Martin Hägele

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