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Mester

© Imago

Deutsche Olympia-Teilnehmer: Gemeinsam sind sie stark

Die Speerwerferin Steffi Nerius trainiert regelmäßig mit dem Behindertensportler Mathias Mester. In China wollen der kleinwüchsige Kugelstoßer und seine Trainerin eine Medaille gewinnen.

„Ah!“, schreit Mathias Mester und stürzt über den kleinen Balken, der den Kugelstoßring begrenzt. Ein dumpfes Geräusch kündet von seinem Aufprall auf dem Hallenboden. Steffi Nerius ist enttäuscht. „Matze, was ist los?“, ruft sie und springt von ihrem Stuhl auf. Der Kugelstoßer sagt: „Ich kann bei dieser Musik nicht stoßen.“ Über die Hallenlautsprecher tönt „Last Christmas“ von Wham.

Es ist ein Dezembernachmittag in der Fritz-Jacobi-Sportanlage in Leverkusen. Winterliches Licht fällt in die Leichtathletikhalle, die sich langsam mit Trainierenden füllt. Einsam stemmt der Stabhochspringer Tim Lobinger im Kraftraum Gewichte, in der Hallenmitte schläft ein Leichtathlet auf einer Weichbodenmatte. Ein überdimensionales Plakat erinnert an die Weltmeisterschaften 2007 in Osaka, doch die meisten, die hier trainieren, haben längst das nächste Ziel vor Augen: die Olympischen Spiele 2008 in Peking. Für Steffi Nerius und Mathias Mester, die in der Wurfanlage hinter einem überdimensionalen Netz trainieren, geht es an diesem Nachmittag aber um etwas anderes. Um einen Nikolaus aus Schokolade.

Steffi Nerius hat ihn mitgebracht, als Motivation. „Er liegt im Auto“, sagt die 35 Jahre alte Speerwerferin, die bei den Spielen in Athen Silber und bei der WM 2007 in Osaka Bronze gewonnen hat. „Wenn du über die Markierung stößt, bekommst du ihn“, sagt sie und legt eine grüne Halbkugel aus Hartgummi auf den Boden. Bei neuneinhalb Metern. Eine leichte Aufgabe, wenn man weiß, dass der Weltrekord im Kugelstoßen der Männer bei 23,12 Metern liegt. Eine Herausforderung hingegen, wenn man kleinwüchsig ist. Hier liegt der Weltrekord bei 10,46 Metern. Mathias Mester kennt diese Marke genau. Er ist kleinwüchsig, misst 1,42 Meter – und hat den Weltrekord der Klasse F40 selber aufgestellt.

Aus sportlicher Sicht könnten Mathias Mester und seine Trainerin Steffi Nerius eines der erfolgreichsten Paare 2008 werden. Beide wollen und können in Peking eine Medaille gewinnen – sie im August bei den Olympischen Spielen im Speerwerfen, er im September bei den Paralympics im Kugelstoßen. „Er hat es leichter“, sagt Steffi Nerius, „bei ihm sind nicht so viele am Start.“ Als Weltmeister und Weltrekordhalter ist Mathias Mester ohnehin hoher Favorit. „Bei mir haben viele Konkurrenten Chancen“, sagt Nerius und zuckt bedauernd die Schultern. „Ich möchte gerne das Finale erreichen und darin Bestleistung werfen.“ Das sollte für eine Medaille reichen. Mester wird an diesem Tag in Deutschland vor dem Fernseher sitzen. Wie schon im August, als er den Bronzewurf von Nerius in Osaka zu früher Morgenstunde live mitverfolgt hat. „Da freut man sich und sagt, guck mal, da wirft meine Trainerin“, sagt er.

Im April 2005 hatten sich beide gefunden. Mester war zu einem Schnuppertraining für paralympische Athleten nach Leverkusen gekommen. Nerius, die an der Sporthochschule in Köln Reha-Training und Behindertensport studiert hat und seit 2002 halbtags als Trainerin für Behindertensport arbeitet, erkannte sein Talent. „Er ist für einen Kleinwüchsigen ungewöhnlich explosiv“, sagt sie. Tatsächlich verbesserte er sich schnell in allen Disziplinen. Inzwischen besitzt er nicht nur den Weltrekord im Kugelstoßen, sondern auch im Speerwerfen (36,37 Meter) und Diskuswerfen (31,34 Meter). Fast logisch, dass er in diesen Disziplinen auch amtierender Weltmeister ist. Im November wurde er Deutschlands Behindertensportler des Jahres. „Im Nicht-Behindertensport gäbe es eine solche Entwicklung nicht“, sagt Nerius. Sie freut sich mit ihm, sieht den rasanten Aufstieg aber auch mit Besorgnis. „Ich hoffe, dass er nicht glaubt, dass es immer so weiter geht.“

Doch Mester intensiviert gerade erst das Kugelstoßen. Seit Oktober gehört er der Sportklasse bei Bayer Leverkusen an, neben seiner Ausbildung zum Bürokaufmann im Konzern kann er nun nahezu professionell trainieren. Seine Trainerin staunt: „Er verbessert sich immer weiter.“ Vor 2005 hatte sich seine sportliche Erfahrung auf eine Fußballkarriere in der Kreisliga C seines Heimatvereins in Coesfeld beschränkt. Bei den Nicht-Behinderten. Er hat dort sogar einige Tore geschossen – darunter ein besonderes.

Nach einer Ecke schwebte der Ball hoch in den Strafraum herein. Er flog über Gegner und Mitspieler hinweg, bis er bei Mathias Mester landete. Der stand am zweiten Pfosten, es fiel ihm nicht schwer, den Ball ins Tor zu befördern. Mit dem Kopf. Mester muss auch heute noch lachen, wenn er sich an diesen Treffer erinnert. „Davon wird bei uns in Coesfeld noch oft erzählt“, sagt er und grinst. Das Kopfballtor des kleinen Matse. Ein Kuriosum, aber eigentlich sollte ein Kopfballtor in der Kreisliga nichts Besonderes sein. Mathias Mester ist genau deshalb froh, den Behindertensport entdeckt zu haben.

„Bei den Nichtbehinderten läufst du so mit“, sagt er, „die Leistung, die sie bringen, kann ich nicht schaffen.“ Er war glücklich, als er beim Schnuppertraining in Leverkusen einen anderen Kleinwüchsigen sah, der die Kugel in die Wurfgrube wuchtete. „Den schnapp’ ich mir“, dachte er sich, „das kann ich auch.“ Zum ersten Mal war er körperlich gleichberechtigt. Der Behindertensport brachte Ansporn, Selbstbewusstsein und Stolz in sein Leben. „National habe ich alle im Griff“, sagt er inzwischen. International auch.

Steffi Nerius sitzt vor dem Training neben der Laufbahn und sucht eine Antwort auf die Frage, ob sie wegen seiner Behinderung auf irgendetwas Rücksicht nehmen müsse. „Es gibt nicht viele Unterschiede“, sagt sie. Mathias Mester hilft: „Ich komme halt nicht an die Sachen, die weit oben liegen.“ An den Schrank mit den Medizinbällen zum Beispiel. Dann fällt auch seiner Trainerin etwas ein: „Seine Arme sind zu kurz zum Hantelstemmen, er würde sich die Stange an den Kopf hauen.“

Steffi Nerius sieht das Training mit Behindertensportlern eher als Herausforderung. „Es klingt etwas makaber“, sagt sie, „aber wenn mir jetzt durch einen Unfall der linke Unterarm verloren ginge, und ich das im Kopf verkraften und wieder mit meinem Sport anfangen würde – dann könnte ich ohne Probleme 50 Meter werfen.“ Wegen der körperlichen Voraussetzungen, die sie sich über die Jahre antrainiert hatte. Der Weltrekord im Speerwerfen für Unterarmamputierte liegt bei 37 Meter. „Ich versuche daher, so nah wie möglich an das Training der Nicht-Behinderten heranzukommen“, sagt sie. Mit Orthopädie-Techniker hat sie deshalb für eine Athletin ohne Unterarm eine Prothese entwickelt, mit der diese das Training beidarmig bewältigen kann.

Überhaupt geht Steffi Nerius pragmatisch mit ihren Athleten um. Über das Wort „Behindertensport“ hat sie noch nie nachgedacht. Manche halten es für negativ besetzt, da das Wort „behindert“ beinhaltet, dass jemand etwas nicht kann. Zu Mathias Mester hat einmal ein beinamputierter Sportkollege gesagt: „Für mich bist du gar nicht behindert, dir fehlt doch gar nichts.“ Doch Nerius sieht die Thematik locker. „Da sind die Behindertensportler viel sensibler.“ Mathias Mester kommt mit ihrer strengen, aber konstruktiven Art gut klar. „Wir haben viel Spaß zusammen“, sagt er. Sie könne super motivieren.

„Ah!“, schreit Mathias Mester und stößt die Kugel. Er schwankt, doch er stürzt nicht. Gespannt blickt er seinem Wurf hinterher, die Kugel fliegt und landet kurz hinter der grünen Halbkugel aus Hartgummi. „Ja!“, schreit er und blickt zu seiner Trainerin. Das ist er, der Nikolaus aus Schokolade. Fehlt nur noch die Medaille aus Gold.

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