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© dpa

Deutschland - England: „Fantastisch! Unglaublich! Wundervoll!“

Der Fußball-Klassiker Deutschland gegen England hat viele Geschichten geschrieben – am Mittwoch kommt eine neue hinzu.

Wenn die deutsche Fußball-Nationalmannschaft am Mittwoch auf England trifft, spielt auch die Historie mit. Der sogenannte Klassiker hat viele große und kleine Geschichten geschrieben, vom 1:5 beim ersten Mal 1908 in Berlin bis zum 1:5 im September 2001 in München. Das 0:9 in Oxford am 13. März 1909 ist bis heute die höchste Niederlage der Deutschen. Von den 29 Spielen gewann Deutschland elf, England 14.

DAS ERSTE MAL

Berlin, 20. April 1908, 1:5

Nur 15 Tage nach dem ersten Länderspiel der Deutschen in der Schweiz (3:5) ist England der erste Heimgegner. Auf dem Viktoriaplatz in Berlin-Mariendorf treffen beide Teams am 20. April 1908 aufeinander. An die 7000 Zuschauer – für damalige Verhältnisse eine extrem hohe Zahl – sehen die Partie und den deutlichen Sieg der favorisierten Engländer. „Leider wies die Aufstellung der Deutschen verschiedene Lücken auf, so dass wohl sonst ein günstigeres Resultat für die Schwarzweißroten herausgekommen wäre“, schrieb damals die „Mariendorfer Zeitung“. „Bei den Gästen war jeder gleich gut.“ So gut, dass sie kurz darauf in London olympisches Gold gewannen.

Tore: 0:1 Stapley (5.), 1:1 Förderer (20.), 1:2 Woodward (25.), 1:3 Purnell (43.), 1:4 Stapley (?.), 1:5 Woodward (90.).

DAS TOR VON WEMBLEY

London, 30. Juli 1966, 2:4 n.V.

Die letzte Minute läuft, England ist Weltmeister, das Wembleystadion feiert. Die englischen Reservespieler haben sich schon von der Bank erhoben, zum großen Jubel bereit. Auf der deutschen Bank sitzt auch niemand mehr. Alle rudern mit den Armen: nach vorne! Es gibt Freistoß für die Deutschen. Wolfgang Weber, der Abwehrspieler, läuft mit in den englischen Strafraum. Der Freistoß von Lothar Emmerich bleibt in der Mauer hängen, doch der Ball kommt erneut in den Strafraum, „wird abgefälscht, trudelt durch den Fünfmeterraum und landet mir genau vor dem rechten Stiefel“, erinnert sich Weber. „Ich hatte nur einen Gedanken: schnell rein damit! Sonst pfeift der Schiedsrichter ab.“ Es ist das 2:2 im WM-Finale, und die erste Schlüsselszene, an der Weber beteiligt ist. Die zweite folgt zehn Minuten später. Geoff Hurst kommt sechs Meter vor dem deutschen Tor zum Schuss, er knallt den Ball an die Unterkante der Latte, und von dort springt er – ja, was denn eigentlich: auf oder hinter die Linie? Weber kann es nicht genau sehen, weil ihm die Sicht versperrt ist, aber er hat das Gefühl: „Der war nie und nimmer hinter der Linie.“ Dann unterläuft ihm der vielleicht entscheidende Fehler: Er köpft den Ball über die Latte, das Spiel ist unterbrochen, und erst dadurch hat Schiedsrichter Dienst die Gelegenheit, seinen Linienrichter Bachramow zu befragen. Der hat es zwar auch nicht genau gesehen, entscheidet aber auf Tor, weil, wie er später einmal sagt, der deutsche Torhüter so einen untröstlichen Eindruck gemacht habe. Wolfgang Weber sagt: „Ich hätte den Ball auch mit der Brust stoppen und den Gegenangriff einleiten können.“ Hätte er nur.

Tore: 0:1 Haller (12.), 1:1 Hurst (17.), 2:1 Peters (78.), 2:2 Weber (90.), 3:2 Hurst (100.), 4:2 Hurst (120.).

DER ERSTE SIEG

Hannover, 1. Juni 1968, 1:0

60 Jahre und zwölf Spiele nach dem ersten Aufeinandertreffen gewinnt Deutschland zum ersten Mal gegen England. Offenbar haben die Nationalspieler zu diesem Zeitpunkt einen regelrechten England-Komplex. Jedenfalls muss Bundestrainer Helmut Schön seine Spieler vor dem Anpfiff erst an ihre Stärke erinnern: „Ihr denkt immer, ihr habt gegen England nichts zu bestellen. Kommt doch auch mal mit geschwollener Brust auf den Platz! Schaut ihnen doch ganz selbstbewusst in die Augen! Denkt euch doch endlich mal: Wir sind auch wer!“ Seine Ansprache wirkt: Deutschland gewinnt 1:0, und zwei Wochen darauf gelingt der Mannschaft in Stuttgart auch der erste Sieg gegen Brasilien. „Da bin ich heute noch stolz drauf“, sagt Wolfgang Weber.

Tor: 1:0 Beckenbauer (82.).

DIE HITZESCHLACHT VON LEON

Leon, 14. Juni 1970, 3:2 n.V.

Die Chance zur WM-Revanche für 1966 bekommen die Deutschen vier Jahre später in Mexiko bereits im Viertelfinale. Die Zuschauer erleben in Leon einen „ Krimi, wie er besser nicht geschrieben werden kann“, sagt Wolfgang Weber. Kurz nach der Pause sehen die Engländer wie der sichere Sieger aus: Sie führen 2:0 – und das bei Temperaturen von 50 Grad oder mehr auf dem Platz. „Das war mörderisch“, sagt Weber, der auf der Ersatzbank sitzt. Doch die Deutschen kämpfen sich in der Mittagshitze zurück. Beckenbauer gelingt der Anschlusstreffer, kurz darauf nimmt Englands Nationaltrainer Ramsey seinen Spielmacher Bobby Charlton vom Feld. Ein fatales Signal. Bundestrainer Schön erkennt darin „das Eingeständnis der kommenden Niederlage“. Uwe Seeler trifft per Hinterkopf zum Ausgleich, in der Verlängerung erzielt Gerd Müller das 3:2. Der Weltmeister ist ausgeschieden – und der Fußball um ein Heldenstück reicher. Die französische Sportzeitung „L’Équipe“ jubelt: „Fantastisch! Unglaublich! Wundervoll! Außergewöhnlich!“

Tore: 0:1 Mullery (31.), 0:2 Peters (49.), 1:2 Beckenbauer (68.), 2:2 Seeler (82.), 3:2 Müller (108.).

DER ERSTE SIEG IN WEMBLEY

London, 29. April 1972, 3:1

Es ist kurz vor dem Anpfiff, die deutschen Spieler sitzen in der Kabine, und Günter Netzer bringt die optimistische Grundstimmung auf den Punkt. „Wenn wir hier weniger als fünf Stück kriegen, haben wir ein erstklassiges Resultat erzielt“, sagt er zu Franz Beckenbauer. Doch dann kommt alles ganz anders. Die Deutschen spielen Präzisionsfußball moderner Prägung und gelangen innerhalb von 90 Minuten „vom größten Tief in die vollkommene Unbekümmertheit“, wie es Bundestrainer Schön beschreibt. Und das liegt nicht zuletzt an Netzer. „Es war Günter Netzers größtes Spiel“, schreibt Schön in seinen Memoiren. Ihm gelingt fast alles, sogar sein äußerst schwach geschossener Elfmeter rutscht fünf Minuten vor Schluss zum 2:1 ins Tor. Noch heute gilt der Auftritt der Deutschen, ihr erster Sieg in England, als eines ihrer besten Länderspiele. „Zu diesem Spiel und dieser Leistung konnte es keine Steigerung mehr geben“, sagt Paul Breitner. Helmut Schön schreibt in seiner Autobiografie: „Wenn ich mal ausgesprochen nostalgisch bin und wirklich guten Fußball sehen will – dann lege ich die Kassette ,England 72‘ ein, setze mich aufs Sofa und schwelge in Erinnerungen.“

Tore: 0:1 Hoeneß (26.), 1:1 Lee (77.), 1:2 Netzer (85.), 1:3 Müller (88.).

DAS ELFMETERDRAMA, TEIL EINS

Turin, 4. Juli 1990, 5:4 n.E.

Manchmal genügt im Fußball ein einziges Spiel, um alles zu verändern. Bodo Illgner zum Beispiel besitzt seit dem WM-Halbfinale 1990 den Ruf, ein exzellenter Elfmeterkiller zu sein. Wenn Illgner aber eines nicht konnte, dann waren es Elfmeter. Den Schuss von Pearce hat er im Grunde nur deshalb gehalten, weil er sein Knie nicht rechtzeitig wegbekam. Egal. Illgner ist fortan der Held – obwohl Waddle beim entscheidenden Elfmeter nicht einmal das Tor trifft. „Im Prinzip kann jede Mannschaft jede andere Mannschaft im Elfmeterschießen schlagen“, sag Gary Lineker. Es sei denn, die eine Mannschaft heißt England und die andere Deutschland.

Tore: 1:0 Brehme (60.), 1:1 Lineker (81.), Elfmeterschießen: 1:2 Lineker, 2:2 Brehme, 2:3 Beardsley, 3:3 Matthäus, 3:4 Platt, 4:4 Riedle, Illgner hält gegen Pearce, 5:4 Thon, Waddle verschießt.

DER ABGESAGTE KLASSIKER

Hamburg/Berlin, 20. April 1994

Auf den Tag 86 Jahre nach ihrem ersten Länderspiel sollen Deutschland und England in Hamburg zu einem Freundschaftsspiel aufeinandertreffen, doch zwischen 1908 und 1994 hat der 20. April eine neue Bedeutung bekommen. Es ist der Geburtstag Adolf Hitlers und damit eben nicht, wie der DFB glaubt, „kein bemerkenswertes Datum“. Hamburgs Innensenator Werner Hackmann setzt das Spiel ab, nachdem sich rechtsradikale Gruppen angekündigt und zur Gewalt aufgerufen haben. Der DFB reagiert – und verlegt das Spiel ins Berliner Olympiastadion, einen bekanntermaßen historisch gänzlich unbelasteten Schauplatz. Am Ende ist es der englische Verband, der die Peinlichkeit beendet und das Spiel absagt.

DAS ELFMETERDRAMA, TEIL ZWEI

London, 29. Juni 1996, 7:6 n.E.

Das Kreuz durchgedrückt, die Hände an die Hüften gelegt, die Lippen zusammengekniffen – wie ein Gockel steht er da, nachdem er den entscheidenden Elfmeter verwandelt hat: Andreas Möller feiert den Einzug ins Finale der EM 1996 auf seine Art. Die Deutschen, stark ersatzgeschwächt, haben den Gastgeber ausgeschaltet und ein Spiel gewonnen, das von den englischen Boulevardmedien mit der üblichen Kriegsrhetorik aufgeladen worden war. Am Ende ist es einfach nur ein grandioses Fußballspiel, „ein Spiel von nahezu unerträglicher Intensität“, wie der „Guardian“ schreibt. In der Verlängerung trifft erst Anderton den Pfosten, dann erzielt Stefan Kuntz das Golden Goal für die Deutschen – es wird nicht anerkannt. „Zu Unrecht, wie ich immer noch finde“, sagt Kuntz. Als die deutschen Spieler das Feld verlassen, erheben sich die englischen Zuschauer von ihren Plätzen und applaudieren. „Das war das Größte, was ich als Fußballer erlebt habe“, sagt Kuntz.

Tore: 1:0 Shearer (3.), 1:1 Kuntz (16.), Elfmeterschießen: 2:1 Shearer, 2:2 Häßler, 3:2 Platt, 3:3 Strunz, 4:3 Pearce, 4:4 Reuter, 5:4 Gascoigne, 5:5 Ziege, 6:5 Sheringham, 6:6 Kuntz, Köpke hält gegen Southgate, 7:6 Möller.

DAS LETZTE SPIEL IN WEMBLEY

London, 7. Oktober 2000, 1:0

Es ist das letzte Spiel im Wembleystadion vor Abriss und Neubau, es soll ein würdiger Abschied werden – und endet für die Engländer in einem Debakel. „Sie marschieren wieder“, schreibt die „Sunday Times“ gewohnt feinfühlig nach der 0:1-Niederlage in der Qualifikation für die WM 2002. Englands Nationaltrainer Kevin Keegan erklärt nach dem Spiel seinen Rücktritt. Dabei gewinnen die Deutschen eigentlich nur mit Glück. Dietmar Hamann trifft mit einem Freistoß aus 30 Metern, weil die Engländer ihre Mauer noch nicht postiert haben. Der Sieg bereitet den Deutschen noch Jahre später große Freude. Als per Internet ein Name für eine Brücke am neuen Wembleystadion gesucht wird, bekommt ein Vorschlag aus Deutschland die meisten Stimmen: Didi-Hamann-Bridge.

Tor: 0:1 Hamann (14.).

DIE REVANCHE

München, 1. September 2001, 1:5

Die deutsche Nationalmannschaft hat sich in den Tagen vor dem Spiel in die Idylle am Starnberger See zurückgezogen. Doch die Idylle endet jäh. Im Münchner Olympiastadion kassieren die Deutschen ihre höchste Heimpleite seit dem 0:6 gegen das österreichische Wunderteam im Jahr 1931. Dabei hat es so gut angefangen. Nach fünf Minuten bringt Carsten Jancker die Mannschaft von Teamchef Rudi Völler in Führung. Dann aber schlagen die Engländer zurück. Michael Owen erzielt drei der fünf Tore. Für Völler rückt die Niederlage schnell in den Hintergrund. Sein Vater ist auf der Tribüne zusammengebrochen und muss ins Krankenhaus gebracht werden.

Tore: 1:0 Jancker (6.), 1:1 Owen (13.), 1:2 Gerrard (45.), 1:3 Owen (48.), 1:4 Owen (66.), 1:5 Heskey (74.).

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