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Lucien Favre, Tagesspiegel-Kolumnist und Ex-Hertha-Trainer.

© dapd

Kolumne Europareise (12): Deutschland lässt hinten zu viel zu

In unserer täglichen Kolumne kommentieren Marcel Reif, Moritz Rinke, Lucien Favre, Philipp Köster und Jens Mühling im Wechsel die EM. Diesmal erklärt Ex-Hertha-Trainer Lucien Favre, warum ihn Holland enttäuscht hat - und welche Gefahren er für Deutschland sieht.

Nach der Vorrunde kann ich sagen, dass ich von dieser Europameisterschaft schon sehr angetan bin. Ich habe guten, schnellen und taktisch klugen Fußball gesehen, mit der erwarteten Dominanz der großen Mannschaften. Die Holländer gehören nicht mehr dazu, aber, ganz ehrlich: Das hat mich nicht so sehr überrascht.

Natürlich hast du es bei einem Turnier schwer, wenn du das erste Spiel verlierst, noch dazu so unverdient wie die Holländer gegen Dänemark. Aber eine gute, eine in sich gefestigte Mannschaft kann das kompensieren. Die holländische konnte es nicht. Mein Kollege Bert van Marwijk hat dann im letzten Spiel noch einmal alles probiert. Dass er Mark van Bommel gegen Portugal draußen gelassen hat, kann ich verstehen. Van Bommel ist über seinen Zenit hinaus, er hat nicht mehr den früheren Einfluss auf das Spiel, aber sein Nebenmann Nigel de Jong hat ihn auch nicht. Und die anderen? Ich denke, Rafael van der Vaart war als defensiver Mittelfeldspieler genauso verschenkt wie Wesley Sneijder auf der linken Seite. Robin van Persie hat mal rechts, mal zurückgezogen gespielt, aber seine Vorzüge kommen ganz vorne eben am besten zur Geltung. Dass Arjen Robben ständig die Flügel gewechselt hat, war dem Spiel auch nicht zuträglich. Und über die Abwehr muss ich wohl nichts weiter sagen. Eine Katastrophe!

Alles in allem war das schon ein sehr großer Kontrast zur deutschen Mannschaft, die für mich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit das Halbfinale erreichen wird. Drei Siege in drei Vorrundenspielen – das ist eine sehr gute Bilanz. Aber, so viel Ehrlichkeit muss sein: Deutschland ist noch nicht bei 100 Prozent. Und ich habe auch Schwächen gesehen. Dort, wo es wehtun kann. Ganz hinten, in der Abwehr. In der Viererkette sind alle Verteidiger technisch nahezu perfekt ausgebildet, sie sind überragend in der Spieleröffnung, da kommt keine andere Mannschaft ran. Aber es fehlt eben noch die totale Koordination. Man merkt an manchen Stellungsfehlern, dass die Vorbereitung wegen des Champions-League-Finales sehr spät angefangen hat. In allen drei Vorrundenspielen haben die Gegner ziemlich viele Torchancen kreieren können. Die Deutschen lassen hinten einfach zu viel zu. Das ist gefährlich.

Wer gegen die Deutschen geduldig spielt, der wird seine Chancen bekommen. Das wird im Viertelfinale gegen Griechenland noch nicht weiter ins Gewicht fallen. Aber danach wird es richtig ernst, gegen eine Topmannschaft, und wenn dann die Koordination in der Viererkette immer noch nicht stimmt, könnte es eng werden. Deswegen sehe ich die Deutschen trotz der sehr guten Vorrunde nicht als Topfavorit auf den Titel.

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