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Die taktische Verteidigung Italiens beeindruckt die deutsche Mannschaft. Trotzdem wird auf Augenhöhe gespielt.

© AFP

Deutschland und Italien bei der EM: Wir können auch Angstgegner

Lange hat ganz Fußballdeutschland vor den Italienern gezittert. Unter Joachim Löw ist die Nationalelf selbst ein wenig so geworden wie der Angstgegner. Reicht das diesmal?

Mats Hummels hielt einen Schritt Sicherheitsabstand. Er beugte den Oberkörper leicht nach vorne und schaute in den Abgrund. In Zeiten sozialer Medien ist es bestens dokumentiert, wie die Fußball-Nationalspieler ihre freie Zeit verbringen. Die einen machen eine Bootsfahrt, die anderen spielen Tennis oder Beachvolleyball. Mats Hummels wurde am Dienstag im Freibad von Évian beim Sprung vom Zehn-Meter-Brett gefilmt. Es war der erste überhaupt in seinem Leben, und wie es das filmische Dokument vermuten lässt, hatte der Innenverteidiger der Nationalmannschaft „Schiss ohne Ende“. Nach eigener Einschätzung haben ihm ganz schön die Beine gewackelt, und nur weil ihm der Gedanke, die Treppe wieder rückwärts runter zu klettern, noch furchteinflößender vorkam, hat er es dann doch gewagt. Es gibt halt Dinge, da muss man einfach durch.

„Wir sind bereit, die Geschichte umzuschreiben.“

Ein bisschen ist das für die Nationalmannschaft auch so mit dem EM-Viertelfinale gegen Italien. Wenn ein Gegner dem ganzen Land die Beine wackeln lässt, dann sind es die Italiener, seit Generationen schon amtlich ausgewiesener Angstgegner der Deutschen. Statistisch gesehen hat die Nationalmannschaft gegen Italien doppelt so oft verloren wie gewonnen, darunter auch die letzten beiden K.-o.- Spiele: bei der WM 2006 und bei der EM vor vier Jahren, jeweils im Halbfinale. Trotzdem scheint im deutschen Team vor dem Wiedersehen weniger Angst zu herrschen als bei Mats Hummels auf dem Zehn-Meter-Brett. „Wir sind erfahrener geworden, reifer geworden, haben uns weiter entwickelt“, sagt Torwarttrainer Andreas Köpke. „Wir sind bereit, die Geschichte umzuschreiben.“

Trotz der schwarzen Serie machen die Nationalspieler nicht den Eindruck, dass sie dem Spiel im Zustand allgemeiner Verzagtheit entgegenblicken; sie freuen sich eher auf eine intensive Auseinandersetzung mit einen Gegner aus der gleichen Gewichtklasse. Und ein bisschen erkennen die Deutschen in der Squadra Azzurra auch sich selbst. „Italien ist so wie wir auch eine Turnier-Mannschaft“, sagt Hummels. Effizient, erfolgreich und vielleicht noch ein bisschen abgezockter, vor allem in taktischer Hinsicht.

Italiens Spielweise - ein role model

Für Bundestrainer Joachim Löw waren die Italiener immer schon ein role model. Es gibt zwei Nationen, die ihn seit Beginn seiner Amtszeit wirklich beeindrucken, die er stets gelobt und denen er mit seiner Mannschaft nachzueifern versucht hat. Das sind zum einen die Spanier mit ihrer fußballerischen Klasse, die Löw so gern als neue deutsche Tugenden patentieren lassen würde. Und da sind die Italiener mit ihrer taktischen Reife, mit ihrer tieferen Einsicht in die inneren Gesetze des Fußballs. „Wie sie verteidigen, das haben sie in Fleisch und Blut“, sagt der Bundestrainer. „Sie sind super organisiert, machen die Räume unglaublich eng. Das haben sie gelernt von klein auf.“

Löw ist mit der Nationalmannschaft Weltmeister geworden, trotzdem ist er in dieser Woche gefragt worden, ob seine Ära erst mit seinem Sieg gegen Italien komplett sei. Natürlich würde Löw so etwas nie bestätigen, aber vielleicht empfindet er das wirklich so. Als Liebhaber des schönen Spiels bewundert er die Spanier; als Trainer aber schätzt er die Italiener noch mehr. Die Squadra Azzurra ist eine Trainermannschaft, Italien ein Trainerland.

psychische Stärke setzt sich durch

Der Bundestrainer hat lange daran gearbeitet, sein Team etwas spanischer zu machen; inzwischen aber steckt auch eine Menge Italien in der Nationalmannschaft. Vor vier Jahren haben die Deutschen noch wie verschüchterte Schuljungs zu den Italienern aufgeschaut, die immer ein bisschen aussehen, als würden sie im Armani- Anzug aufs Spielfeld treten. „Sie haben athletisch starke Spieler und auch psychisch starke Spieler“, sagt Löw. „Das sieht man immer, wenn es drauf ankommt: Sie lassen sich durch nichts beirren. Sie spielen ihr Spiel – das ist ihre Stärke.“ Bei der Halbfinalniederlage vor vier Jahren leitete der unnahbare Andrea Pirlo das erste Tor ein: mit einem Pass aus dem Mittelkreis. Toni Kroos und Mesut Özil, auch keine Laufkundschaft, standen in jenem Moment exakt jenseits der Kreidelinie. Es schien, als wagten sie es nicht, Pirlos – im Wortsinne – Kreise zu stören.

Wenn es im internationalen Fußball so etwas wie einen legitimen Nachfolger des italienischen Spielmachers gibt, ist es am ehesten Toni Kroos: Mit seinen Füßen bestimmt er den Rhythmus, er ist es, der die Ordnung wahrt und dem Spiel seiner Mannschaft Struktur verleiht. Vor vier Jahren wurden die Deutschen von den Italienern zweimal regelrecht überrumpelt. Es ist schwer vorstellbar, dass sie sich heute noch einmal derart naiv anstellen würden. Im Laufe der Europameisterschaft hat die Nationalmannschaft ein Gleichgewicht aus defensiver Stabilität und Mut in der Offensive gefunden.

keine Gegentore verschaffen mentale Sicherheit

Die Deutschen haben bei der EM als einziges Team noch kein Gegentor kassiert; mit dem Vorbereitungsspiel gegen Ungarn haben sie sogar schon fünf Mal hintereinander zu null gespielt. Mats Hummels empfindet es als Kompliment, wenn die deutsche Defensive mit den Italienern verglichen wird, den Meistern des Verteidigens, die sich laut Löw auch über ein 0:0 freuen können und den Ball im Zweifel einfach auf die Tribüne dreschen – und auch noch lächeln dabei. „Italien steht klischeehaft für den Catenaccio. Den haben wir jetzt nicht an den Tag gelegt“, sagt Hummels. „Wir verteidigen sehr hoch, versuchen, durch frühes Gegenpressing den Gegner vom Tor wegzuhalten.“ Die defensive Stabilität wird gerne auf die beiden Innenverteidiger Mats Hummels und Jerome Boateng reduziert sowie Welttorhüter Manuel Neuer dahinter. In Wirklichkeit ist sie ein Werk des ganzen Teams. Fünf Spiele ohne Gegentor, das ist „eine sehr gute Sache“, findet Hummels. „Das zeigt, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, mit dem wir das Turnier auch gewinnen können.“

Egal wem die Deutschen auf diesem Weg noch begegnen mögen: Die Italiener gelten gemeinhin als härtester Gegner. „Sie haben eine Mannschaft aus Erfahrung und Klasse“, sagt Joachim Löw. Und auch wenn ihnen vor dem Turnier nur wenig zugetraut wurde: „Es ist ein viel besseres Italien als 2008, als 2010 – auch als 2012.“ Ein Sprung vom Ein-Meter-Brett wird das Viertelfinale ganz sicher nicht.

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