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© EPA

Sport: Die Angst der Sprinterin vor der Hürde

Carolin Nytra könnte über 100 Meter schneller sein – wenn sie nicht immer bremsen würde

Sie hatte nur ganz kurz gezuckt, aber das war schon zu viel. Der Starter schoss die Läuferinnen zurück. Fehlstart. Verursacht von der Hürdensprinterin auf Bahn fünf. Auf der Bahn lief Carolin Nytra vom Bremer LT. Noch ein Start, Nytra, die 24-Jährige, startete mit Verzögerung. Eine Zehntelsekunde verlor sie, aber sie konnte es sich leisten. Mit 13,03 Sekunden qualifizierte sie sich gestern problemlos für das heutige Halbfinale über 100 Meter Hürden. Drei Stunden später wird das Finale gestartet. „Ich muss im Halbfinale volles Risiko gehen“, sagt Nytra, „sonst habe ich keine Chance.“ Und sie muss noch den Faktor Zuschauerbegeisterung einplanen. Der Applaus trieb sie an, sie lief deshalb anders, das ist gefährlich. „Ich muss die Schrittlänge reduzieren“, sagt sie, „sonst knalle ich gegen die Hürde.“

Diese Gefahr kennt Carolin Nytra, sie begleitet ihr sportliches Leben als Hürdensprinterin. Aber normalerweise hat das nichts mit jubelnden Fans zu tun, sondern mit den Ängsten der Carolin Nytra.

Ihre Bestzeit steht bei 12,78 Sekunden, das ist international nur Durchschnitt. Aber sie kann einfach noch nicht so schnell laufen wie die Konkurrentinnen, wie die Kanadierin Priscilla Lopes-Schliep zum Beispiel. Die hatte die beste Vorlaufzeit, 12,56 Sekunden. Wer in der absoluten Weltspitze mitlaufen möchte, der muss die Zeit zwischen zwei Hürden in weniger als einer Sekunde absolvieren, und zwar ohne Ausnahme. Doch Carolin Nytra schafft das nicht. Zehn Hürden stehen im Weg, Nytra drosselt nach drei, vier Hürden das Tempo. „Das ist eine Art Schutzmechanismus des Körpers“, sagt sie. Dieser Schutzmechanismus wirke, „weil ich das Gefühl habe, zu schnell zu sein“. Zu schnell, das würde bedeuten, sie läuft gegen die Hürde, und das kann verdammt weh tun.

Rüdiger Harksen, einer der beiden Cheftrainer des Deutschen Leichtathletik-Verbands, kann diese Hemmungen verstehen: „Man hat schnell das Gefühl, dass man zu rasant unterwegs ist.“ Dann reduziere man unwillkürlich die Geschwindigkeit. „Oft ist das auch eine Folge davon, dass man erlebt hat, wie es ist, wenn man in eine Hürde rennt.“ Harksen war früher Bundestrainer der Hürdensprinterinnen.

Wie löst man schnell so ein Problem? Gar nicht. „Man muss lange trainieren, bis man die Ängste verliert“, sagt Carolin Nytra. „Es nützt ja nichts, immer wieder über die Hürden zu sprinten und zu hoffen, dass irgendwann die Angst weggeht.“ Hat sie zu viele Wiederholungen, dann ermüdet der Körper, dann wird sie unkonzentriert, und damit hätte sie einen kontraproduktiven Trainingseffekt. „Deshalb gibt es viele Hürdensprinterinnen, die erst in einem gewissen Alter richtig gut sind“, sagt Nytra. Die US-Amerikanerin Damu Cherry, die eine Bestzeit von 12,44 Sekunden hat, ist 31 Jahre alt. In diesem Jahr lief sie schon 12,53 Sekunden. Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele. Die erst 22-jährige Australierin Sally McEllan hat eine Bestzeit von 12,50 Sekunden.

Wie geht so eine junge Athletin wie McEllan mit ihrer Angst um? „Ich weiß es nicht“, sagt Carolin Nytra. Sie selber jedenfalls kann solche Zeiten nicht laufen. Aber sie arbeitet daran. „Mein Traum ist es, mal schneller als 12,60 Sekunden zu laufen. Dann wäre ich die schnellste westdeutsche Hürdensprinterin aller Zeiten.“

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