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Sport: Die Deutschen und ihre Nationalelf: Die deutsche Mannschaft tut sich schwer bei der Suche nach einem Anführer

Es zählt zu den Vorlieben der Deutschen, Ordnung zu schaffen. Auf engstem Raum funktioniert das mitunter recht gut.

Es zählt zu den Vorlieben der Deutschen, Ordnung zu schaffen. Auf engstem Raum funktioniert das mitunter recht gut. Zum Beispiel im Bus der deutschen Fußballnationalmannschaft. Vorne rechts, gleich hinter der Scheibe, thront Teammanager Bernd Pfaff, in der nächsten Reihe Teamchef Erich Ribbeck, schräg dahinter lugt Physiotherapeut Adolf Katzenmeier hervor. Die Spieler folgen ab Reihe fünf, die jüngeren sitzen am Fenster, die älteren am Gang, Lothar Matthäus hat seinen Stammplatz in der letzten Reihe. Konkrete Kriterien für diese Sitzordnung gibt es nicht, und doch weiß jeder, wo sein Platz ist.

Ach, wäre der Fußballplatz doch ein großer Bus. Dort braucht man weder Fantasie noch Kreativität, und doch läuft alles nach Plan. Doch die Rangordnung, die auf den Fahrten vom Quartier zum Spiel und zurück perfekt funktioniert, sie fehlt den deutschen Spielern, wenn es ernst wird. Beklagt wird der Mangel an Führungsspielern, an Typen, die eine Linie vorgeben, an Leitwölfen, die einem Team den Weg weisen, wenn es mal wieder nicht so läuft. Und zurzeit läuft im deutschen Spiel wenig bis gar nichts.

Ribbecks Vorgänger Berti Vogts war noch Bundestrainer und nicht nur Teamchef, und der hatte bei der EM 1996 das Glück, Spieler wie Matthias Sammer oder Thomas Helmer zu haben. Helmer ist auch dieses Mal dabei - als Analytiker des Deutschen Sportfernsehens. Die Analyse des Analytikers ist schnell formuliert: "Wenn du keinen Chef hast, hast du als Trainer ein Problem."

Nun laufen diese Führungsspieler nicht in Scharen über deutsche Fußballplätze. In der Bundesliga gibt es nur zwei. Emerson ist Brasilianer, Effenberg mag nicht mehr im nationalen Auftrag die Fäden ziehen. "So etwas ergibt sich mit den Jahren", sagt Helmer, "aber wer keine Leistung bringt, wird es immer schwer haben, den Mund aufzumachen." Jens Jeremies wäre einer, glaubt Helmer. Einer wie Sammer. Einer, den es nicht nur in die Zeitungsspalten drängt. Gelegentlich sei es ja hilfreich, Unpopuläres zu machen, dem Vereinspräsidenten zu widersprechen, den Trainer anzugreifen oder bloß Zustand der Nationalmannschaft als jämmerlich zu bezeichnen. "Dafür musst du aber nicht nur Mut haben, sondern auch das Echo vertragen können", sagt Helmer. "Der Jeremies wird es mal weit bringen."

Und Lothar Matthäus? Helmer winkt ab. "Seine Zeit als Führungsfigur in der Nationalmannschaft ist vorbei. Ein paar Spieler lassen ihn ganz gern diese Rolle spielen, aber für die ist er eher ein Alibi, damit sie nicht selbst in die Verantwortung genommen werden." Den Autoritätsverlust verdankt Matthäus vor allem seinem herzlichen Kontakt zur Boulevardpresse. "Das weiß doch mittlerweile jeder", sagt Helmer. "Was Lothar heute weiß, weiß morgen die ganze Nation." Aus der Mannschaft wendet sich schon lange keiner mehr vertrauensvoll an den Kapitän. "Ich habe manchmal bewusst gemauert, wenn die Medien kamen", erzählt Helmer. "Früher galten Absprachen noch was."

Früher - das Stichwort passt auch für Thomas Häßler. Vor drei Tagen hat er sein 100. Länderspiel bestritten, und damit "hatte ich selbst nicht mehr gerechnet", sagt der Mann vom TSV 1860 München. Spricht so ein Platzhirsch? "Häßler hat doch nie nach einer Führungsrolle gestrebt", sagt Helmer, "vielleicht würde es ihm auch nur schaden." Ribbeck hatte erst jüngst seiner wichtigen Wiederneuentdeckung Häßler attestiert, dieser habe nicht die Luft für 90 Minuten. Auch eine Variante, einen Spieler aufzubauen.

Ähnlich geschickt verfuhr der Teamchef mit Oliver Bierhoff. Der wäre als Kapitän ein naheliegender Kandidat für die vakante Führungsposition. Doch spätestens seit dem Testspiel vor zwei Wochen gegen Tschechien, als er nicht in der Startformation stand, darf sich auch Bierhoff nicht mehr sicher sein. Helmer: "Das war ein Vertrauensbruch zwischen Trainer und Kapitän."

Bleiben nur noch zwei: Jens Nowotny und Mehmet Scholl. Techniker Scholl, der Deutschland mit seinem Tor zum 1:1 gegen Rumänien vor einer Blamage bewahrte, ist zwar auf dem besten Weg, seinen Ruf als Talent abzuschütteln, aber das geschieht für einen 29-Jährigen reichlich spät. Scholl zählt zum wichtigen Kreis, genießt dort aber den zweifelhaften Status eines Beisitzers ohne Stimmgewalt. Ähnlich steht es um Nowotny. Der brave Dienstmann von Bayer meldete vorsichtig an, er wolle Verantwortung übernehmen. Ob ihm das gelingt, wird maßgeblich davon abhängen, wie lange Ribbeck Teamchef bleibt. Nach der EM wird dieser Sitz neu zu vergeben sein. Nicht nur im Mannschaftsbus.

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