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Sport: Die Potsdam-Connection

Wie Trainer Ingo Weißenborn die Fechterin Anja Müller zu WM-Silber führte

Vor dem Finale hat er ihr noch mal intensiv in die Augen geblickt. Das gehört zum Ritual zwischen Anja Müller und Ingo Weißenborn. Sie haben viele Rituale entwickelt. Zum Beispiel soll sich Anja Müller umdrehen, wenn sie sich auf der Planche ärgert. Sie soll dann tief durchatmen, sich beruhigen und weitermachen. Anja Müller hat sich auch am Montagabend umgedreht. Es hat ihr geholfen. Sie gewann Silber mit dem Florett bei der Fecht-WM in Leipzig. Dass sie 14:15 gegen die Italienerin Valentina Vezzali verlor, war letztlich Pech. Zwei Stunden später hat sie sich mit Weißenborn zum letzten Mal an diesem Tag abgeklatscht. Es war ein intimer Moment, Trainer und Sportlerin unter sich. Die Arena Leipzig war fast leer, es war eine intensive Atmosphäre.

Die Rituale für sich sind banal. Sie gewinnen ihre Bedeutung aus dem Verhältnis von Müller zu Weißenborn. Die Rituale sind wie eine Kette, die beide verbindet. „Er ist super. Er steht hundertprozentig hinter mir. Er ist genau das, was ich brauche“, sagt Anja Müller. Sie ist jetzt 28 Jahre alt, aber erst unter Weißenborn hat sie ihre erste WM-Medaille gewonnen. Die beiden arbeiten gerade mal ein Jahr zusammen in Tauberbischofsheim, aber der Einzel-Weltmeister im Florett von 1991 steht für eine Zäsur im Leben der Anja Müller. Ihre Medaille ist auch seine Medaille.

Anja Müller war in Potsdam auf einer Kinder- und Jugendsportschule (KJS) der DDR, litt nach der Wende unter den Problemen ihres Klubs OSC Potsdam und wechselte 1999 eher skeptisch an den Olympiastützpunkt Tauberbischofsheim. Dort empfing sie ein Trainer mit dem Satz: „Du bist 22 Jahre alt, der Wechsel kommt zu spät, aus dir wird nichts mehr.“ Das Klima war schlecht in Tauberbischofsheim, Anja Müller lernte mühsam, „sich durchzusetzen“, und nahm die endlosen Duelle mit Teamkolleginnen hin. „Das war die alte Tauber-Schule“, sagt sie, „immer nur Gefechte.“ Sie lernte wenig über Taktik, sie musste sich nicht im Konditionstraining quälen, aber sie entwickelte sich auch nicht. Sie wurde zwar zweimal Deutsche Meisterin, aber in 60 Weltcupturnieren kam sie 49-mal nicht unter die ersten acht.

Dann stieg Weißenborn in Tauberbischofsheim vom wissenschaftlichen Mitarbeiter zum Disziplintrainer auf. Das war im November 2004, der Verband reagierte auf das schwache Abschneiden der Florettfechterinnen in Athen. Weißenborn übernahm die ganze Florettgruppe. Weißenborn stammt aus Potsdam, er war auch in einer KJS, „er spricht meine Sprache“, sagt Müller. Der frühere Weltmeister verschärfte erst mal die Gangart im Training, vor allem im Konditionsbereich. „Grenzwertig“ nennt er manche Übungseinheiten. Und er provoziert. Er lässt Turniergefechte simulieren, bei denen der Kampfrichter vorsätzlich falsch entscheidet. Seine Fechterinnen sollen mit solchen Stresssituationen klar kommen. Einmal hat er seine fünf Kinder in die Halle gebracht. Zwei von ihnen kurvten mit einem Tretauto über die Planche und durch die Beine von Müller. Da hatte sie genug. Zwei Tage später sagte sie zu Weißenborn: „Da hast du mir aber etwas eingebrockt.“ Mehr Aggressivität nimmt sich die Sportsoldatin selten raus.

Denn Anja Müller hat auch bemerkt, wie sehr sie sich seit November verbessert hat. Sie kann jetzt ein Gefecht besser führen, sie lässt sich nicht mehr so schnell ablenken, und sie genießt den neuen Teamgeist in ihrer Florettgruppe. In drei Weltcup-Turnieren in diesem Jahr wurde sie einmal Zweite und zweimal Dritte. „Lass dich von den Massen tragen“, hatte ihr Weißenborn vor dem Finale in Leipzig gesagt. Denn Müller hatte ein komisches Gefühl vor diesen vielen Menschen. Später sagte sie: „Der Tipp von Ingo war sehr wertvoll.“

Als sie dann Silber um den Hals hatte, spürte sie neben der Freude auch „Genugtuung“. Denn in ihrer Fantasie tauchten ein paar bekannte Gesichter auf. Und Anja Müller sagt: „Ich habe es allen Lästermäulern von früher gezeigt.“

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