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Sport: Die Staffel ist eine Macht

Wie die deutschen Freistilschwimmerinnen in Budapest EM-Gold mit Weltrekord gewannen

Um 22 Uhr versuchte Britta Steffen zu schlafen, es ging nicht. Also redete sie und redete sie. Mit ihr im Zimmer bei der Schwimm-EM in Budapest liegt Nicole Hetzer, noch eine, die zu aufgewühlt zum Schlafen war. Hetzer hatte am Abend Silber über 400 Meter Lagen gewonnen, ihr bisher größter Erfolg. Aber was war Silber gegen die 52,66 Sekunden von Britta Steffen nur ein paar Minuten später? 52,66 Sekunden hatte noch nie eine Frau über 100 Meter Freistil geschwommen, Britta Steffen aus Berlin gelang diese Fabelzeit in der 4-x-100-Meter-Freistil-Staffel. Am Ende waren sie Weltrekord geschwommen, Petra Dallmann, Daniela Götz, Britta Steffen und Annika Liebs. 3:35,22 Minuten, fast eine Sekunde schneller als die alte Bestmarke der Australierinnen (3:35,94).

Am Morgen danach stand Britta Steffen neben dem Pool des Budapester Schwimmstadion, mit nassen Haaren und in ihren schwarzen Anzug gezwängt. Sie hatte gerade ihren 100-Meter-Freistil-Vorlauf gewonnen, und sie sagte: „Ich habe das alles immer noch nicht richtig verarbeitet.“ Wie denn auch? Dieser Weltrekord ist ja ein Phänomen. Nicht bloß wegen der Zeit, sondern wegen der Frauen, die ihn geschwommen haben. Britta Steffen? Hatte nach den Olympischen Spielen 2004 ans Aufhören gedacht. Ein ewiges Talent, oft gescheitert. Ein Jahr machte sie Pause, ging zu einer Psychologin und lernte, dass „ich kein schlechter Mensch bin, wenn ich nicht schnell schwimme“. Der Druck ist weg, sie schwimmt Bestzeit um Bestzeit. Annika Liebs? Jahrelang ein Nobody. Dann wechselte sie den Trainer und die Trainingsmethoden, jetzt ist sie Weltklasse. Daniela Götz? Eine 18-Jährige, ein Talent. In der Staffel schwamm sie so schnell wie noch nie in ihrem Leben (53,87). Petra Dallmann? Die erfahrenste, sicher. Seit Jahren dabei, aber immer im Schatten von Größeren.

Aber in der Staffel verschwimmen alle Unschärfen, die Staffel ist eine Macht. Eine ungeheure Stärke geht von so einer Mannschaft aus. Als würde eine unsichtbare Kraft in die Körper strömen und ungeahnte Kraftreserven mobilisieren. Es gibt im deutschen Schwimmen kein stärkeres Symbol von Macht und Stärke als die Staffeln. Deshalb holen die Teams traditionell serienweise Medaillen, oft genug Gold. „In einer Staffel wächst du über dich hinaus“, hat mal der Freistil-Spezialist Christian Keller gesagt. Bei der WM 2003 lieferte er sich über 4-x-200-Meter-Freistil ein legendäres Schluss-Duell mit dem Italiener Massimiliano Rosolino. Keller gewann, Deutschland holte Bronze. „Da muss dir das Laktat aus den Ohren strömen“, sagte Keller. „In der Staffel“, erzählte Britta Steffen, „bist du vierfach motiviert.“

Aber jenseits der Psychologie geht es auch um Taktik. „Eine gute Staffelzeit ist viel mehr als die Addition von vier guten persönlichen Zeiten“, sagt Bundestrainer Manfred Thiesmann. Er ist seit vielen Jahren für die Staffeln verantwortlich, und er arbeitet wie ein Wissenschaftler. Zum Beispiel an der Frage: Wer wechselt auf wen? Bestimmte Paarungen gehen einfach nicht. „Wenn jemand den Rhythmus einer anderen nicht aufnehmen kann, darf sie nicht nach ihr starten“, sagt Thiesmann. Der Rhythmus ist extrem wichtig. Die Schwimmerin auf dem Block sieht nicht, wann die andere anschlägt. Sie sieht nur ihren letzten Armzug. Bei einer ganz bestimmten Stelle des Arms springt sie. Sonst ginge zu viel Zeit verloren. Aber sie muss darauf vertrauen, dass die andere punktgenau die Wand trifft. Sie darf nicht noch ein paar Zentimeter gleiten, sonst gibt’s einen Fehlstart. Annika Liebs zum Beispiel kann den Rhythmus von Daniela Götz nicht aufnehmen. „Deshalb lasse ich Daniela Götz nie auf Annika Liebs wechseln“, sagt Thiesmann. Am Montag sprang Steffen nach Götz ins Wasser.

Nächstes Problem: Wer startet? Die Startposition ist unbeliebt. „Viele scheuen das 1:1-Duell“, sagt Thiesmann. Also benötigt er jemanden, der nervenstark ist und gleichzeitig sicher anschlägt. Petra Dallmann erfüllt beide Anforderungen. Aber dann muss sich Thiesmann auch noch in die Gegner reindenken. Wie stellen die auf? Der Rückstand zur Konkurrenz darf nicht zu groß werden, sonst muss die nächste Athletin in die Wellen springen. Das kostet Zeit. „Und Wellen kann man eigentlich nur untertauchen“, sagt der Bundestrainer.

Zugleich muss Thiesmann auch unberechenbar bleiben. Die Gegner kalkulieren ja auch. „Ich mache die seltsamsten Aufstellungen“, sagt Thiesmann. Zumindest wenn die anderen Faktoren das erlauben. Im Zweifelsfall greift er halt noch auf ein Psychospielchen zurück. Dann schickt er einen Athleten mit einem Sonderauftrag auf den Block: „Zucke nervös, provozier’ einen Fehlstart des anderen.“ Manchmal klappt’s. „Die russischen Männer“, sagt Thiesmann, „haben wir schon dreimal in einen Frühstart geschickt.“

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